Das Lied vom Ende der Welt
(Spiel mir) das Lied vom Ende der Welt
Er hatte glattweg den Weltuntergang verpennt.
Wilstedt wachte eines Morgens auf (es war ein gottverfluchter Dienstag), und die Welt war den Bach runtergegangen. Und zwar buchstäblich.
Jetzt erwarten sie keine „Der letzte-Mensch-auf-Erden-Story“ – beileibe, nein – denn da draußen war die die Hölle los! Aber der Reihe nach: Wilstedt hatte am Tag zuvor mächtig zugelangt – Bier, Wein, Koks – das ganze Programm. Irgendwann war dann der Geist vom Haken gefallen, er nur noch zu Bett gewankt (gerade noch die Schuhe geschafft), und in einen sogenannten Totenschlaf gefallen, aus dem er am besagten Dienstag mit einem Schädel wie Fabrikhallen aufwachte.
Als nächstes registrierte er diese wüstenartige Trockenheit in seinem Mund – sie ließ ihm ein leidvolles Stöhnen entfahren; darauf tastete er mit seiner rechten Hand nach dem Wecker neben seinem Bett. Halb acht Uhr morgens.
Irgendetwas war anders… Wilstedt grübelte, soweit sein hämmernder Schädel dies zuließ… richtig – eigentlich brannte um diese Uhrzeit schon die Sonne durch das Kippfenster. Er schielte nach oben. Grau. Der Himmel war eine dichte, graue Wolkenmasse. „Ahh, fuck!“ Naja, irgendwann musste es ja vorbei sein mit den heißen Tagen. Hoffentlich würde es jetzt nicht nur noch pissen. Der Mann hatte noch eine Woche Urlaub…
Wilstedt quälte sich hoch, einen weiteren Seufzer ausstoßend. In dem Moment knatterte ein Hubschrauber dicht über dem Haus hinweg. „Verpisst euch“, presste der von Lärm und Schmerz Gepeinigte hervor, sich dabei den Kopf haltend. Als das Ding vorbei war, stand er auf und begab sich, noch leicht wankend, zur Toilette. Am Becken stehend und Wasser lassend lauschte er auf das Plätschern des Urins. Nach und nach drang in seine Hörwindungen ein anderes Geräusch, welches sich schließlich zur Gewissheit verfestigte: da draußen schrie jemand um Hilfe!
Der Mann schüttelte ab, wollte der Sache auf den Grund gehen und das Klofenster öffnen, doch die Fensterbank stand voll mit Pflanzen, und diese beiseite zu räumen wäre ihm zu viel der Mühe gewesen. So ging er durch den Flur zum Wohnzimmer, um von dort aus…
Schon auf dem Weg dorthin häuften sich die Geräusche, verdichteten sich zu lauten Stimmen, vereinzelten Schreien, Menschenmenge draußen …auf seinen Balkon zu gelangen. Er öffnete die Tür, trat hinaus, und sah sich einer unwirklichen Szenerie gegenübergestellt…
Also, um es zu erklären: Die Nacht zuvor war ein Sturm über Nordeuropa gefegt, eigentlich gleich mehrere, die eine phatte Flutwelle mitbrachten. Ergebnis: große Teile von Deutschland waren unter Wasser, Landstriche verwüstet, England war scheinbar ganz futsch – nun ja. Aber unser Herr Wilstedt (36 Jahre, ledig) hatte nun das Glück, zu jenen zu gehören, die auf einem höher gelegenen Landstück wohnen, und dazu noch im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses, falls es mal ganz dick kommt…
Es war ganz dick gekommen! Wilstedt glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Dort, wo sich sonst Einfamilienhäuser mit gepflegten Vorgärten aneinanderreihten, war alles unter Wasser. Nur noch vereinzelte Dächer ragten aus der grauen Flut hinaus. Das Wasser reichte hinauf bis zu seiner Straße, wenn auch dort vielleicht nur noch knietief.
Eine größere Anzahl von Menschen hatte sich auf der Einfahrt zu den Garagen versammelt; ständig kamen neue hinzu. Manche von ihnen hatten Schlauchboote dabei, einer zog ein Kajak den Wendeplatz hinauf.
„Scheiße.“ Der Mann auf dem Balkon kratzte sich die Leiste, jemand aus der Menge erblickte ihn und winkte zu ihm hinauf. Wilstedt winkte ab und drehte sich um. „Kaffee kochen.“ Während das Wasser durch die Maschine lief und auf den gemahlenen Kaffee tröpfelte, tippte Wilstedt mit der Fernbedienung die Glotze an. Wenn er schon so früh aufgewacht war, so dachte der Verkaterte, dann konnte er sich ja Zeichentrickfilme angucken, die um diese Uhrzeit immer auf irgendeinem Kanal liefen… doch schietendada!
Erstes Programm: Bilder einer überfluteten Stadt. Dächer von höheren Gebäuden, Kirchturmspitzen. Zweites Programm: Menschen wurden gezeigt, die sich aus ihren gefluteten Häusern retteten, in Boote, mit uniformierten Helfern. Er musste an Venedig denken. Weiterschalten. Manche Sender waren schwarz, wahrscheinlich abgesoffen, der mdr zeigte ein Testbild – unglaublich!
Wilstedt wurde langsam unruhig. Gab es denn nirgends…
Im bayerischen Fernsehen referierten Wissenschaftler über das Zustandekommen der Katastrophe: die allgemeine Klimaerhitzung sei die Ursache – das sich ständig vergrößernde Loch in der Atmosphärenschutzschicht – und dann haben sich diese beiden Luftschichten übereinandergelegt…
irgendeine Unterhaltungsshow?
Der Betrachter knipste den Ton weg, ließ das Bild weiterlaufen. Vielleicht würde sich die Situation ja bis um 12 Uhr stabilisiert haben, und er konnte Vera am Mittag sehen.
So setzte er sich an den mit Trabakkrümeln übersäten Tisch, trank seinen Kaffee, versuchte es mit einem gebutterten Toast, zündete sich statt dessen lieber eine Zigarette an. Irgendwann läutete das Telefon, nach dem dritten Ton schaltete der Anrufbeantworter an. Seine Mutter meldete sich, ihre Stimme klang noch schriller als sonst: „Klaus, bist du denn nicht da, wo steckst du denn, es ist alles so furchtbar, sie haben uns evakuiert, und jetzt…“ Er hob ab, „ja Mutter, ich bin da, nein, es geht mir gut, das Wasser ist hier nicht so hoch, ja, ich habe genug zu essen, nein ich denke ja, das Wasser wird wieder zurückgehen.“
Das Fernsehbild zeigte ein von Wasser umgebenes Atomkraftwerk, irgend- er konnte nicht erkennen wo. „Ja, Mutter, ich melde mich, wenn alles vorbei ist.“ Klaus Wilstedt starrte zum flimmernden Viereck, SAT 1, Wasserwüsten, abgesoffene Städte, Menschen in überfüllten Booten… keine Werbung, keine Vera, keine Show.
„Ayeeee!“ Der Mann begab sich erneut an den Tisch und machte sich eine Bahn zurecht. Mit einem Glasröhrchen sniffte er das Pulver ein, erst durchs eine, dann durchs andere Nasenloch.
„Ahhhh“. Wilstedt lehnte sich zurück. Jetzt sah alles gleich ganz anders aus. „Okay“, sagte er, „schau ich mir die Show draußen an.“ Die Menschenmenge unten war noch mehr geworden, er schätzte an die 70 Leute. Ein LKW vom THW pflügte die Straße hinauf, (das Wasser war augenscheinlich noch nicht weiter gestiegen) der auf dem Balkon Stehende vernahm eine Lautsprecherstimme: „Wir bitten die Anlieger in ihren Wohnungen, Obdachlose bei sich aufzunehmen, so lange, bis Evakuierungsmaßnahmen…“ „Ihr könnt mich mal!“ brüllte Wilstedt los, und einige der auf dem Platz Ausharrenden reckten ihre Hälse. „Bin ich etwa ein Asylantenheim?“ Er schüttelte drohend die Faust. „Bleibt ja, wo ihr seid!“
Später Nachmittag: Zu dem auf dem Tisch stehenden Aschenbecher hatte sich ein Kochtopf, in dem Ravioli erwärmt worden war, und fünf leergetrunkene Bierdosen gesellt. Draußen fiel feiner, sich stetig verdichtender Nieselregen. Klaus Wilstedt saß auf dem Boden und reinigte eine Walter P2. Neben ihm an der Zimmerwand lehnte eine doppelläufige Jagdflinte, daneben stand eine Armbrust. Die Pistole und die Jagdflinte hatte er sich über Kontakte aus dem Internet besorgen können, beides mit ausreichend Munition. Gegen den steten Lärm von draußen hatte er seine Anlage aufgedreht – nothing else matters von Metallica, auf Endlosschleife. Die Klingelanlage war abgeschaltet, vor der Eingangstür hing eine Kette. Wilstedt legte die Waffe beiseite, um sich eine neue Dose Bier zu öffnen. Und in diesem Augenblick fiel der Strom aus… Zuerst dachte Wilstedt, die CD würde haken, doch die Ziffern der Anzeige waren verschwunden, der Fernseher war ebenfalls dunkel.
„Okay“. Klaus Wilstedt erhob sich, griff sich das Jagdgewehr sowie eine Schachtel Munition, und betrat den Balkon. Er spürte den Regen auf seinem Gesicht, den kühlen Wind, atmete tief ein. Unten wurden Leute auf ihn aufmerksam, deuteten aufgeregt zu ihm hinauf. Der Mann fütterte die Waffe mit zwei Patronen, ließ den Lauf zuschnappen. Ruhig nahm er die Deckung suchenden Menschen ins Visier, dann ballerte er los…
Nachsatz: Klaus Wilstedt wurde aus einem Polizeihubschrauber mit einem Schuß in den Kopf niedergestreckt. Bevor er starb, erschoß er zwölf Menschen und verletzte die doppelte Menge zum Teil schwer. Die Nachrichten gaben ihm dafür 90 Sekunden. Die Flutwelle ging wieder zurück, die Lage hatte sich nach fünf Wochen stabilisiert. Also: macht ruhig so weiter !
Christian C. Kruse