Der Moment der Stille
von Christian C. Kruse
Erster Teil
Songlines und Walkabouts
Sie holten ihn von der Arbeit ab. Er war gerade dabei, die fertig verpackten Kartons mit einem Gabelstapler zu dem bereitgestellten Container zu fahren, als sein Vorarbeiter ihm signalisierte, anzuhalten. „Da will Dich jemand sprechen.“ Auf seine Frage, um was es sich denn handele, bekam er ein Schulterzucken zur Antwort, aber der Blick des Vorarbeiters sagte ihm, dass er seinen Spind gleich ausräumen könne, wenn es sich um das handelte, wonach es aussah. Sie waren zu zweit, trugen zweckmäßige Kleidung in unauffälligen Farben; einer von ihnen hatte einen Pepitahut auf. Sie fragten, ob er Daniel Mauro sei, und als er dies bestätigte, forderten sie ihn auf, mit ihnen zu kommen. Sein Einwand, dass er sich hier auf der Arbeit befände und nicht einfach weg könne, ließ sie ihre Köpfe hin- und herbewegen, ganz sachte, kaum merklich, und der mit dem Pepitahut schlug die Innenseite seiner Jacke auf, so dass ein Paar Handschellen sichtbar wurde. „Bitte zwingen Sie uns nicht, davon Gebrauch zu machen.“ Daniel verspürte Trockenheit im Mund und ein Kribbeln an den Haaransätzen, drehte sich im Gehen noch einmal um. Ein anderer Arbeiter saß bereits auf dem Gabelstapler und fuhr die Ladung zu dem Container. Auf einem der Parkplätze vor dem Bürogebäude hatten sie das Auto abgestellt. Es war ein mattgrau lackierter Audi 80. Sie ließen ihn auf der Rückbank platz nehmen;der mit dem Pepitahut setzte sich neben ihn. „Wenn Sie möchten, werden wir Sie nachher wieder zurückbringen.“ Vor dem Eingang zu seiner Wohnung warteten zwei weitere Männer. Diese trugen Uniformen. Daniel wurde aufgefordert, ihnen Einlass zu gewähren. Aus den Augenwinkeln bemerkte er seine Vermieterin, die das Geschehen durch den Türspalt der angrenzenden Wohnung beobachtete. Als sie seinen Blick bemerkte, schloss sie schnell die Tür. Gemeinsam mit Daniel betraten die Vier sein Domizil, ein Zimmer mit angrenzender Küche und Bad. Augenblicklich begannen sie mit ihrer Arbeit, zogen die Schubladen des Schreibtisches auf, entnahmen darin befindliche Unterlagen, öffneten Fotoalben, sicherten ihnen wichtig erscheinende Schriftstücke und Bilder in Klarsichtfolien, die sie in mitgeführten Aktenordnern abhefteten. „Halten Sie sich für weiterführende Befragungen bereit“, bekam Daniel von einem der Nichtuniformierten als Anweisung gesagt. Zurück auf der Arbeit sprach ihn der Vorarbeiter an, dass er sich aus dem Büro einen Scheck mit dem ihm noch zustehenden Lohn abholen könne, und nicht vergessen solle, seine persönlichen Sachen mitzunehmen. Daniel tat wie ihm geheißen, dies, ohne dagegen aufzubegehren, in der Gewissheit, dass dies sinnlos gewesen wäre, nahm seinen Rucksack mit der darin befindlichen Thermoskanne und den am Abend zuvor belegten Broten aus dem Spind, ließ den Schlüssel stecken. Draußen setzte sich der Mann aufs Rad, fuhr als erstes zum Geldinstitut, da er befürchtete, dass ihm das Konto gesperrt würde, und löste den Scheck ein. Danach begab er sich in den Stadtpark, setzte sich dort auf eine Bank. Trotz der milden Frühlingsluft verspürte er ein schauerartiges Frösteln;gleichzeitig stand ihm Schweiß auf der Stirn. Daniel packte die Brotdose und die Thermoskanne aus, hielt Mahl, weniger aus Hunger als aus dem Bedürfnis heraus, sich damit ein Stück weit Sicherheit zu verschaffen. Es ist ihm von Anfang an bewusst gewesen, worauf er sich einließ, als er die maschinegetippten, auf Kopierern vervielfältigten Hefte verteilte, sie in Bibliotheken, Supermärkten und anderen öffentlich zugänglichen Orten hinterlegte. Zuvor hatte er in der Kneipe gesessen und Zettel mit Notizen vollgeschrieben. Ab und an kam einer von den Kneipenbesuchern zu ihm an den Tisch, fragte, was er denn da schreibe. „Nichts besonderes“ war seine Antwort, oder „Tagebuchaufzeichnungen“. Er wollte niemanden mit hineinziehen, zum Mitwisser werden lassen, was er vorhatte. Daniel gehörte keiner Gruppierung an, keiner der so genannten radikalen Zellen, weder den Rechten noch den Linken, die beide nach Revolution schrien und Machtwechsel wollten. Dies war nicht sein Ansinnen. Er wollte keine Abschaffung der Machtverhältnisse erreichen, nur um sie dann durch andere ersetzt zu sehen. Daniel waren verschiedentliche Aussagen aufgefallen, an denen er begonnen hatte Zweifel zu hegen. Es waren Aussagen, die die vier Säulen betrafen, auf denen die Existenz der westlichen Welt, des Abendlandes, aufgebaut worden war: die Religion, die Wissenschaft, die Wirtschaft, und die Politik. Dabei ging es nicht etwa um divergierende Meinungen, sondern um Fundamentalismen, die nach den von Daniel gewonnenen Erkenntnissen nicht der Wirklichkeit entsprachen, ihr nicht entsprechen konnten. Jedoch waren sie so fest verankert im Konsens des Sprach-, Schrift- und Denkgebrauchs, dass sie als unumstößliche Gesetzmäßigkeiten galten. Stellte jemand sie infrage, wurden, unter Zuhilfenahme der vorherrschenden Lehrmeinungen, die Zweifler zurechtgewiesen, so dass sie schließlich angaben, es hatte sich um einen blinden Fleck in ihrer Wahrnehmung gehandelt, da sie dem Mehrheitsdruck nicht länger in der Lage waren standhalten zu können. Mitunter veranlasste sie der drohende Verlust ihrer Arbeit oder des sozialen Ansehens, wieder den Weg der Konformität zu gehen. Hin und wieder wurden Gegenmeinungen zugelassen, dies letztlich mit dem Ziel, die fundamentalen Konstrukte in ihrer Wahrhaftigkeit zu stärken. So besteht dieses System seit Jahrhunderten, unterstützt und getragen durch Autoritäten, die diese Aussagen in Vorträgen ständig wiederholen und sie in Büchern oder Feuilletons veröffentlichen lassen, untermauert mit Formeln, Berechnungen und Prognosen. Und für andere kritische Querdenker wurden Verschwörungstheorien erfunden, um sie abzulenken und in die Irre zu führen. Die dafür zuständigen Denkfabriken arbeiten mit den Geheimdiensten der entsprechenden Regierungen zusammen. Anfangs dachte Daniel, dass er einem Irrtum unterlegen war, Opfer eines Denkfehlers geworden wäre. Wenn er jedoch die Sachverhalte überprüfte, lagen die Falschaussagen vor ihm, offenbarten sich wie Webfehler in einem vorgegebenen, immer wiederkehrenden Muster. Daniel tat Brotdose und Thermoskanne zurück in den Rucksack und fuhr zu seiner Wohnung. Dort wurde er bereits von seiner Vermieterin erwartet, einer kleinen, silberhaarigen Frau von siebzig Jahren, die nach dem Tod ihres Mannes den Entschluss gefasst hatte, einen Teil des Hauses zu vermieten. „Ich kann Sie nicht weiter hier bei mir wohnen lassen“, trat sie Daniel im Hausflur entgegen. In ihrem Gesicht konnte er sowohl Angst als auch Verzweiflung lesen. „Es tut mir leid.“ Der soeben Gekündigte nahm die Entscheidung der Frau entgegen, ohne den Versuch eines Einwandes zu erheben. Auch er war dabei, eine Entscheidung zu treffen. So begab er sich zu John, dem Philosophen. Sie lernten sich bei einer Lesung kennen, die John im hiesigen Buchladen gehalten hatte. Dort hörte er die Geschichte von der Erdgöttin Gaia, die aus dem Chaos entstand, dem weiten, leeren Raum, der erfüllt war mit dem gestaltlosen Äther. In diesem Chaos herrschte Finsternis und ihr Gott Erebos, zusammen mit seiner Schwester, der Göttin Nyx, die Nacht. Erebos und Nyx zeugten Hemera, den Tag, was der Anbeginn der Ordnung des Kosmos war. Für das weltliche Gleichgewicht sollte Uranos, der Gott in Himmelsgestalt sorgen, den Gaia mit Hilfe ihres Bruders Eros im Schlaf hervorbrachte. Gaia zeugte mit Uranos die Titaninnen und Titanen, sechs Töchter und sechs Söhne, unter ihnen Kronos und Rhea. Da Uranos seine ersten Kinder, die Gaia gebar, die Kyklopen und Hekatoncheiren, als Konkurrenten seiner Macht sah, verbannte er sie zu Gaias Bruder Tartaros, dem Wächter des tiefsten Teils der Unterwelt. So zog Gaia die Titaninnen und Titanen im Verborgenen auf, und wies Kronos, ihren jüngsten Sohn, an, Uranos zu entmannen. Als nun Uranos ebenfalls den Weg zu Tartaros antreten musste, verfluchte er Kronos und weissagte ihm, dass es ihm einst mit seinen Kindern genauso ergehen werde. Aus der Verbindung Kronos und Rhea gingen Hestia, Demeter, Hera, Hades und Poseidon hervor. Aus der Befürchtung heraus, dass sich die Weissagung seines Vaters Uranos bewahrheiten würde, verschlang Kronos die Fünf. Um ihren Jüngstgeborenen, dem Rhea den Namen Zeus, gesprochen dze-us, gegeben hatte, vor diesem Schicksal zu bewahren, gab sie an dessen Statt Kronos einen in eine Decke gewickelten Felsbrocken. Kronos entdeckte die Täuschung nicht und verschlang auch diesen. Rhea brachte Zeus zu einer Berghöhle der Insel Kreta, wo er von Nymphen großgezogen wurde. Zeus wuchs rasch heran, und fasste den Entschluss, gegen seinen Vater Kronos vorzugehen. Hierzu suchte er Metis, die Göttin der Klugheit, auf, und fragte diese um Rat. Metis mischte einen Trunk, dem sie Kronos zu trinken gab, worauf dieser die Geschwister des Zeus erbrach. Zeus fesselte seinen von dem Trank berauschten Vater und brachte ihn auf die Insel der Seligen, dem Elysium. Zeus wurde zum mächtigsten der zwölf olympischen Gottheiten gewählt, woraufhin er die Welt in drei Reiche einteilte: den Himmel, den er selbst beherrschte, das Meer, über dem sein Bruder Poseidon regierte, und die Unterwelt, die Hades, dem Erstgeborenen von Kronos und Rhea, zugesprochen wurde. „Laut der Erzählung der Orphiker soll Kronos noch immer in den Elysischen Gefilden weilen, dort, wo das Goldene Zeitalter besteht, die Phase der Menschheit vor dem Beginn der Zivilisation“, schloss John Engelbert Boner seinen Vortrag. Kurz nachdem Daniel den Klingelknopf gedrückt hatte, wurde der Türöffner betätigt. Er betrat das Treppenhaus, stieg die Stufen hinauf. John und seine Frau begrüßten ihn auf das herzlichste und hießen ihn im Wohnraum platz nehmen, boten ihm zu trinken an, was er dankend ablehnte. Während Daniel berichtete, was ihm widerfahren war, hörte John aufmerksam zu. Seine Mimik drückte Besorgtheit aus, hatte er doch ähnliche Erfahrungen gemacht als junger Mann, damals, als er vor dem Krieg und den Schergen der Nazis geflohen war. In einem Sommerhaus bei Freunden konnte er sich verstecken, nahe der Österreichischen Grenze. „Die finsteren Mächte lauern im Verborgenen und sind dabei, neu zu erstarken.“ Daniel stimmte John mit einem Seufzen zu. „Und was gedenken Sie zu tun?“ wurde er von John gefragt. „Ich werde wohl das Land verlassen wollen, weiß aber noch nicht genau, wie.“ „Bleiben Sie doch zum Abendbrot“, lud Frau Boner ihn ein. „Vielleicht wird Ihnen dabei eine Idee kommen.“ Daniel nahm die Einladung dankend an. Johns Frau bereitete einen Salat mit Schafskäse und Oliven, dazu wurde geröstetes Fladenbrot gereicht, und es gab Retsina zu trinken. Während sie aßen, erzählte John, dass er nach dem Ende des Krieges in Österreich blieb und dort 1946 in Linz dem Förster und Naturforscher Victor Schauberger begegnete. Mit seinen Ausführungen über Energiegewinnung aus der Kraft von Wirbeln fand dieser bei dem interessierten Boner offene Ohren. „Nichts klang esoterisch bei ihm“, stellte John klar. „Alles war fundiertes Wissen aus Naturbeobachtungen.“ Seine Forschungen an dem ‚Repulsator‘, der mit einem neuartigen Bewegungsprinzip, der Implosion, funktionieren sollte, weckte die Begehrlichkeiten der Kriegsherren. Unter Aufsicht der Gestapo sollte Schauberger alternative Antriebstechniken für Fluggeräte, die beim Luftkampf eingesetzt würden, entwickeln, dies erst im Konzentrationslager Mauthausen, später im Außenlager Schönbrunn. „Bei einem Probedurchgang erhob sich so ein Ding, krachte durch das Dach des Hangars, und das war`s dann“, zitierte John Victor Schauberger. Aber was es nun gewesen ist, vergaß John damals nachzufragen. Ingeborg und John lernten sich 1951 kennen, 1954 heirateten sie, und zogen 1978 in die Kleine Stadt, fanden dort diese Wohnung, mit einem wunderschönen Blick hinab auf die Wiesen und den Fluß. Nach dem Essen saßen die drei noch beieinander und lauschten den Klängen von Antonin Dvoraks Symphonie ‚Aus der Neuen Welt‘. Da es schon spät geworden war, wurde Daniel die Couch als Schlafplatz angeboten. Ingeborg gab ihm eine Zudecke, dann zog das Ehepaar sich zurück. In der Nacht zeigte ein Traum ihm den Weg zu dem Land, das sein Ziel sein würde. Der erste Weg führte Daniel erneut zu dem Geldinstitut, wo er die restlichen D-Mark von seinem Konto abhob. Daraufhin erstand er im Bahnhof der Kleinen Stadt ein Interrailticket, packte einen Reiserucksack, und passierte einige Stunden später die Niederländische Grenze. Im Zug von Amsterdam nach Paris fiel die Beklemmung, die auf Daniel Mauro gelastet hatte, zu einem großen Teil von dem Reisenden ab. Er atmete tief durch, ließ seine Gedanken schweifen. Der Begriff Heimat hatte für den Mann keine Bedeutung. Auch konnte er sich nicht mit der Geschichte des Landes, in dem er geboren war, identifizieren, ebenso wenig mit der Religion und den Gesetzen. All dies hatte er in seinen Schriften, die er ‚der Anfang‘ nannte, zum Ausdruck gebracht. Durch sie, so war seine Hoffnung, könne er bei Denjenigen, die sie lasen, eine Veränderung der Sichtweise erreichen. Und die wiederum würden ihre neu gewonnenen Erkenntnisse weitertragen, zu Freunden, auf die Arbeit, in die Kneipe, bis sich daheraus eine so große und starke Gemeinschaft bildete, der dieses System nicht mehr standhalten konnte und schließlich einer neuen Gesellschaftsform weichen musste. Wie diese neue Gesellschaft aussehen würde, vermochte Daniel nicht vorauszusehen, und so gab er weder irgendwelche Lehr- oder Glaubenssätze noch eine Anleitung zum Handeln in seinem Anfang mit. Was er jedoch voraussetzte, war kritisches Denken, dies gegenüber Autoritäten, die nur aufgrund von Machtausübung bestand hatten, respektive über Gesetzesgebung funktionierten. Daniel wollte, dass der Einzelne aus Eigenverantwortung handelte, aus seiner Erkenntnis heraus. Das Einzige, was er mit seinen Bestrebungen nun erreicht hatte, war dieser Entschluss, sich zurückzulassen und einen Neubeginn zu wagen. Immerhin etwas, sagte er sich. In Paris fuhr er mit der Metro vom Gare du Nord zum Gare du Austerlitz, und stieg dort in einen Zug zum Grenzbahnhof Port Bou. Von Amsterdam nach Paris begleitete ihn die Musik der Doors und L.A. woman, the Specials ihr erstes Album, und von the Clash Combat Rock. Von Paris nach Port Bou hörte er Neil Youngs Harvest, das dritte Album von Led Zeppelin, und Star Wars von John Williams. Die meiste Zeit jedoch hatte er die Kopfhörer des Walkman abgenommen und unterhielt sich mit den anderen Reisenden im Abteil. In Port Bou gab es einen längeren Aufenthalt. Daniel nutzte die Zeit, und besah sich die nähere Umgebung, erinnerte sich daran gelesen zu haben, dass der Schriftsteller Walter Benjamin, auf der Flucht vor den Deutschen Faschisten, hier, aus Angst vor einer Auslieferung und erneuten Internierung, sich mit einer Überdosis Morphiumtabletten das Leben nahm. Auf der Fahrt nach Algeciras lachte und sang er mit einer spanischen Familie, die mit ihm Essen und Rotwein teilte. Als er müde wurde, legte er sich in die Gepäckablage des Abteils, hörte beim Einschlafen das dritte Album von Camper van Beethoven und Pink Floyds obscured by clouds. In Algeciras setzte er mit der Fähre nach Tanger über. Auf dem Schiff kam er mit einem Punkpärchen ins Gespräch, die den Himmel über der Wüste sehen wollten. In Tanger angelandet, nahm sich Daniel ein Zimmer in einem einfachen Hotel, freute sich nach der langen Strecke des durchgehenden Reisens über eine Dusche, und legte sich, nur mit Unterwäsche bekleidet, auf das Bett, schöpfte neue Kraft. Als nächstes begab sich Daniel zu einer Bank, tauschte die D-Mark gegen Dirham, erwarb in einem Geschäft neue Batterien für den Walkman und erkundigte sich nach einer Busverbindung zu dem Ort Chaouen, bekam die Auskunft, dass am Vormittag des nächsten Tages ein Bus dorthin fahren würde. Nach dem Abendessen saß Daniel noch draußen vor dem Hotel und trank Pfefferminztee, als ein Mann an seinen Tisch kam, gekleidet in eine weiße Hose und ein langärmeliges weißes Hemd, sowie einen Torquillahut auf dem Kopf tragend, und lud ihn ein, zu ihm nach hause mitzukommen. „In my house we can smoke without fire“ raunte der Mann mit tonloser Stimme; sein Blick war auf etwas für Andere nicht Sichtbares gerichtet. Als Daniel das Angebot ablehnte, entschwand der Mann, sich dabei um die eigene Achse drehend, als müsse er sich neu orientieren. Schnell brach die Dunkelheit herein. Am darauffolgenden Tag wurde sein Rucksack zusammen mit dem Gepäck der anderen Reisenden auf das Dach des Busses verfrachtet. Während der Fahrt in das gut einhundert Kilometer entfernte Chaouen lag eine Musikkassette mit Gustav Holsts Die Planeten ein. Auf der anderen Seite befand sich der Soundtrack von dem Film Crossroads. Schon bald waren jene zwei Gipfel des Rifgebirges zu sehen, die der Stadt den Namen gaben: „die Hörner“. Am Busbahnhof warteten bereits Taxis. Daniel stieg in eines, auf dessen Rückbank bereits drei vollverschleierte Frauen saßen, und ließ sich zum zentralen Platz des Ortes fahren. Dort fand er ein Hotel mit freien Zimmern und Frühstück, überlegte, gleich zu einer Wanderung in die Berge aufzubrechen, entschied sich stattdessen für einen Spaziergang durch die verwinkelten Gassen mit ihren in unterschiedlichen Blautönen gestrichenen Häusern. Hin und wieder wurde er von Händlern angesprochen, die ihm Kif anboten, entweder als getrocknete Blüten oder in Form von Paste. Daniel signalisierte ihnen, dass er kein Interesse daran hegte. In einem kleinen Restaurant bestellte er sich eine Tajine und dazu ein Glas Fruchtsaft. Gesättigt kehrte er zum Hotel zurück. Als Daniel zu der Bergtour aufbrach, bedeckten lichte Wolken den Himmel. Er schritt den Pfad entlang, der ihn an abschüssigen Hängen und steil aufragenden Felswänden entlangführte. Die Vegetation war karg; mitunter blieb er stehen und betrachtete eine Blume, die sich durch den Sandboden ihren Weg gebahnt hatte. Mittlerweile stand die Sonne an ihrem höchsten Punkt. Daran konnte der Wanderer abschätzen, wie lange er bereits unterwegs war. Er hatte weder Verpflegung noch Wasser dabei, verspürte auch keinen Hunger oder Durst. Aber es kamen Zweifel in ihm auf, ob er hier richtig war. Hatte er sich vielleicht verirrt? Würde er überhaupt finden, wonach er suchte? Daniel ließ seinen Blick schweifen über die scheinbar endlos bis zum Horizont reichende Gebirgslandschaft. Die weiße Sonnenscheibe schien in den Anhäufungen aus Wolkenfeldern zu zerfließen. Unsicherheit und Furcht durchdrangen den Suchenden. Dass er wieder in sein Herkunftsland zurückkehren würde, ohne dass sich dort etwas verändert hätte. Er vernahm den Ruf eines Muezzin; der vermochte es, ihm etwas Zuversicht zu spenden. Gleich darauf bemerkte Daniel eine in einen gestreiften Kapuzenmantel gewandete Gestalt, die auf dem Pfad entlangging. Er freute sich, einen weiteren Suchenden zu erblicken. Dieser schritt langsam dahin, bedächtig seine mit Sandalen bekleideten Füße aufsetzend. Schon hatte Daniel ihn eingeholt, grüßte, woraufhin der andere Wanderer sich umwandte. „Da bist Du ja. Hattest Du eine gute Reise?“ Der Gefragte bejahte dies. Der Mann sah ihn mit einem durchdringenden Blick an. Sein Vollbart schien verwoben mit dem Stoff der Kapuze, die Gesichtshaut war von der Sonne gegerbt. „Ich bin Hassan i Sabah.“ Dies wollte Daniel nicht recht glauben, fragte, ob er tatsächlich dem sagenhaften Alten vom Berge begegnet sei. Darüber zeigte der Mann sich amüsiert, wiederfragte, ob Daniel etwa den Legenden über die haschischrauchenden Assassinen Glauben geschenkt habe. „Dies bekamen die damaligen Kreuzfahrer durch die strenggläubigen Muslimen erzählt, um sie gegen uns einzuvernehmen.“ „Weshalb taten sie das?“ Der Alte ließ sich auf einem Felsvorsprung nieder. „Sie hassten uns. Für sie waren wir Abtrünnige. Unser Glauben wich von den Predigten ihrer Schriftgelehrten ab. Jedoch hat es uns schon in den Anfangszeiten gegeben. Einige waren Weggefährten Mohammeds…“ Als der Muezzin sein Gebet beendete, glich die wiedereinkehrende Stille einem Vakuum. „Worin besteht euer Glaube?“ „Wir bezeichnen es als das ‚wahdat al-wudschùt‘, wohl am ehesten zu übersetzen als ‚Die Einheit des Seins‘. Wir glauben nicht an Gott als ein übergeordnetes Wesen, sondern an Gott als eine verborgene Kraft, zu der wir durch Meditation in Verbindung treten können, und die durch uns sich materialisiert. Einer unserer Scheichs wagte einmal bei der Befragung durch einen schiitischen Rat zu sagen „ich bin der Weg, ich bin die Wahrheit, ich bin die Erkenntnis.“ Daraufhin wurde ihm der Kopf abgeschlagen.“ „Warum bin ich hier?“ wollte Daniel von Hassan i Sabah nun wissen. „Ein weiterer unserer Lehrsätze ist, dass die Wahrheit in allen Glaubensrichtungen zu finden ist. Der Ursprung von Religion ist der Wunsch des Menschen, sich zu erklären, woher er kommt, und was um ihn herum geschieht…“ Ein Tier umschwirrte den auf dem über einem darunterliegenden Tal ragenden Felsen sitzenden Mann. Ob es ein Vogel oder ein Insekt war, konnte Daniel nicht erkennen, aber er meinte zu sehen, dass sich Hassan mit dem Geschöpf unterhielt, sich ihm zuwandte, lachte und gestikulierte. Als das Tier weggeflogen war, setzte er seine Ausführungen fort. „Wenn Menschen ihre Verbindung zur Natur verlieren, verlieren sie auch die Verbindung zu Gott. Ihr Geist und ihr Handeln wird vom Materiellen beherrscht. Diese Menschen sind unfähig zu lieben. Sie benutzen andere Menschen, um ihre geschlechtlichen Triebe zu befriedigen, wollen sie besitzen, so wie sie Land und Güter besitzen wollen. Aus Angst, dass andere Menschen ihnen dies wegnehmen wollen, mauern sie sich ein. Fremde betrachten sie als Feinde, die ihr zivilisiertes, sesshaft gewordenes Leben zerstören wollen. Jedoch zerfällt diese selbsternannte Zivilisation von innen heraus, aus ebendiesen Gründen.“ Dunkelheit umgab Daniel. Er sah hinauf zum Firmament und meinte, die Plejaden zu erkennen. Als er wieder zu dem Felsen schaute, war der Mann nicht mehr da. Über das von Hassan i Sabah Gesagte empfand Daniel eine Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit. Als Daniel am darauffolgenden Tag nach Tanger fuhr, um sich dort nach einer Bleibe umzusehen, sah er vor einem Hotel das Punkpärchen von der Fähre sitzen. Mit verklärtem Lächeln gingen ihre Blicke ins Leere. Sie hatten ihren Himmel gefunden.
„Träume nicht, arbeite!“
Die junge Frau hat Schmerzen. Als penetrantes Ziehen in ihrem Rücken, anfangend in der Gegend der Nieren, kriecht es über die Wirbel hinauf zum Genick, und frisst sich dort weiter als zermürbendes Stechen in ihren Kopf, in ihr Gehirn, in ihr Denken… Die Packung mit dem Medikament aus der Apotheke liegt griffbereit in der Schublade des Schreibtischs. Ein Schluck aus der Dose mit dem Energydrink befördert die Tablette in ihr Inneres und lässt sie den Schmerz für eine halbe Stunde vergessen. Ihr Blick konzentriert sich wieder auf den Bildschirm des Rechners. Dort sieht sie einen weiteren Antrag, den es zu bearbeiten gilt. Die den Antrag stellende Person hat eine Geschäftsnummer zugewiesen bekommen. Damit wird jeder Antrag zu einem Fall, über den nach Aktenlage zu entscheiden ist. Es sind an die zwanzig Anträge pro Tag, die bei der Frau eintreffen, manchmal auch mehr. Die Frau hat einen Arbeitstag von acht Stunden, von denen eine halbe Stunde Mittagspause abgerechnet wird. Es wären somit 22,5 Minuten, die ihr zur Bearbeitung eines Antrages zur Verfügung ständen. Jedoch beansprucht das Lesen von E-Mails, das Führen von Telefonaten und die Gespräche mit Kollegen und Vorgesetzten im Durchschnitt eine Stunde, also Zeit für zweizweidrittel Anträge weniger. Und ebensolche unbearbeiteten Anträge stapeln sich im Eingangskorb der Frau und verursachen ihr diese Schmerzen. Denn die Frau vergisst nicht, dass die Geschäftsnummern Menschen sind. Menschen, die nach der Grenzöffnung hierhergekommen sind, weil sie meinten, hier die Insel der Glückseligkeit vorzufinden, wo sich das Glücksrad ständig und für jeden dreht, und Wünsche sofort in Erfüllung gehen, so wie es die Werbesendungen im Westfernsehen versprochen haben. Dafür verließen viele ihre Wohnungen, das nötigste Hab und Gut auf das Dach des Trabi geladen. In Berlin und Leipzig standen ganze Wohnblocks leer, die nach und nach zu Treffpunkten für Künstlerszenen und Technoraves wurden. Die Bürouhr zeigt die Zeit für die Mittagspause an. Die Sachbearbeiterin isst einen Müsliriegel, trinkt dazu aus der Energydrinkdose, dabei weiterhin die Angaben auf dem Formblatt durchlesend. Würde sie ihre halbe Stunde Pause wahrnehmen, weiß sie, dass weitere eineinviertel Anträge unbearbeitet liegenblieben. Das hieße eine Nichterfüllung der Sollvorgaben für ihre Dienststelle, was zu einer Rüge ihres Vorgesetzten führt, der wiederum den Druck von seinem Vorgesetzten weitergibt. Auch muss die Frau seit einer Stunde auf die Toilette, und irgendwann würde sie zumindest diesem Bedürfnis nachgeben müssen. Es wird an die Bürotür geklopft. Ohne eine Aufforderung abzuwarten kommt ein Mann herein, grüßt die Sachbearbeiterin mit einem gewinnenden Lächeln. Diese grüßt zurück, fragt, womit sie helfen kann, dies, obwohl jetzt gar keine Geschäftszeit bei ihrer Dienststelle vorgesehen ist, doch das freundliche Auftreten von dem Herrn lässt sie für den Moment ihre Vorschriften vergessen, ebenso die Anträge, den Stress, und auch ihre drückende Blase. „Ich bin neu hinzugezogen und möchte mich anmelden.“ Mit einem aufrichtigen Bedauern schüttelt die Frau ihren Kopf. „Da sind Sie hier verkehrt. Da müssen Sie zu Zimmer 234.“ Die Bezeichnung Zimmer für die Diensträume konnte nichts an den Eindrücken verbessern, die Stahlschränke, Stahlschreibtische und ebensolchen Regale, vollgestellt mit Aktenordnern, hinterließen. Auch die in der Ecke stehende Glücksfeder und der Wandkalender mit Landschaftsbildern – für den laufenden Monat ist eine Aufnahme von der Ägäis zu sehen: blaues Meer, Segelboote, eine felsige Bucht mit einer Zunge Sandstrand – halfen nicht, den Zweck der Einrichtung zu verbergen: die Verwaltung von Menschen, die in dieser Stadt leben, gelebt haben oder zu leben beabsichtigen. „Wieso, das ist doch hier…“ Der Mann wirft einen Blick zurück auf das Plastikschild links neben der Tür. „Oh. 243. Mein Fehler. Wo muss ich denn da…“ „Den Flur links entlang“, hilft ihm die Frau bei seiner Orientierung. „Vielen Dank. Ihnen noch einen angenehmen Tagesverlauf.“ Der Mann zieht die Tür wieder zu und geht den Flur entlang. Seine Schritte werden gedämpft durch einen dort ausgelegten graubraunen Filzteppichboden. Entlang des Flures stehen oder sitzen vereinzelt Menschen, die darauf warten, aufgerufen zu werden. Manche von ihnen scheinen bereits sehr lange dort zu warten. Da sieht er die Tür mit dem gesuchten Nummernschild. Wieder klopft er an, wartet diesmal, bis eine Stimme ihn dazu auffordert, einzutreten. Der Raum ist mit dem gleichen zweckmäßigen Mobiliar ausgestattet. Hinter dem Schreibtisch dort sitzt ein Sachbearbeiter, der ihn mit durch Brillengläser verstärktem Blick mustert. Er trägt einen Pullunder, der eine ähnliche Farbe hat wie der Schreibtisch, der Schrank, die Regale und der Teppichboden. Seine Gesichtshaut erscheint ebenfalls grau im Licht der Leuchtstoffröhre. Wortlos wartet er ab, was der Eingetretene von ihm will. Nachdem dieser sein Anliegen genannt hat, beginnt er, die Tastatur des Computers zu bedienen, und, ebenso mechanisch, die Daten abzufragen. „Name?“ „George Oremora“. „Bitte buchstabieren Sie.“ „G-E-O-R-G-E-O-R-E-M-O-R-A.“ „Geburtsdatum?“ „Einundzwanzigster Oktober Neunzehnhundertneunundfünfzig.“ „Geburtsort?“ „Hamburg“. „Sie haben Ihr Abmeldeformular dabei?“ „Ja, habe ich.“ George holt ein zusammengefaltetes Blatt aus der Innentasche seines Jacketts, überreicht es dem Beamten. Der nimmt das Blatt entgegen, faltet es auseinander, überprüft die dort zu findenden Angaben auf ihre Richtigkeit. In dem Augenblick beginnt das Telefon zu klingeln. Der Mann hinter dem Schreibtisch unterbricht seine Tätigkeit nicht, reicht das Formular an George zurück, wartet bis das Klingeln aufhört. „Ihre jetzige Adresse?“ George nennt sie ihm. Auch diese Daten werden erfasst, das neue Formular wird ausgedruckt, gestempelt und unterschrieben. „So, bitte.“ George nimmt das Papier entgegen, bedankt sich, wünscht auch hier einen angenehmen Tag. Wieder draußen auf dem Gang faltet er die Anmeldebestätigung zusammen und steckt sie weg, muss sich kurz orientieren, um dann den richtigen Weg zum Treppenhaus einzuschlagen. Er sieht eine Frau, die einen kleinen Jungen in den Armen hält. Sie trägt ein Kopftuch, einen zerschlissenen Mantel und einen langen, bis zu den klobigen Stiefeln reichenden Rock aus grobem Stoff. Neben ihr steht ein Mann gegen die Wand gelehnt, in seinen Händen einen schwarzen Hut haltend. Auch sein Anzug ist schwarz und abgetragen. Die Frau und der Mann erwecken den Eindruck, als kämen sie nicht nur aus einem anderen Land, sondern auch aus einer anderen Zeit. Endlich wieder draußen, atmet George erst einmal tief ein und aus. All diese Begegnungen dort in dem Gebäude sind mit starken Emotionen verbunden gewesen. Bei der Frau im ersten Raum hat er ihren Schmerz wahrgenommen. Sowohl ihren physischen als auch den seelischen, der auf ihr lastet, verursacht durch all die Schicksale, mit denen sie tagtäglich konfrontiert wird. Bei der Frau und dem Mann im Gang spürte er Trauer und Resignation. Aber auch Liebe, die sie füreinander empfanden. Als unangenehm hat George empfunden, was in Raum 234 geherrscht hat: da ist etwas Kaltes, Sezierendes gewesen, was jedoch nicht von dem Mann alleine ausgesendet wurde. George kam es vor, als wäre der Sachbearbeiter Bestandteil von etwas geworden, das ihn vereinnahmt hatte. Aber das war nichts Organisches, nichts Lebendiges. George hat keine Gefühle wahrnehmen können. Stattdessen meinte er, dass etwas in ihn einzudringen versuchte, um sich seiner zu bemächtigen. Hin und wieder hat George so etwas zu spüren bekommen, in der U-Bahn, auf der Arbeitsstelle, oder auch beim einkaufen. Aber dort ist es besonders stark aufgetreten. In einer anderen Zeit hätte so eine Begebenheit den Mann dazu veranlasst, sich mit Alkohol zu stabilisieren, seine fibrigglühenden Nerven zu beruhigen, dies entweder an einem Kneipentresen oder mit Ware aus dem Supermarkt. George schließt sein Rad auf und fährt zu der neubezogenen Wohnung. Als erstes greift er zum Telefon und tastet eine Nummer ein, spricht eine Nachricht auf den daraufhin eingeschalteten Anrufbeantworter. George ist froh darüber, dass er dieser Frau begegnet ist. Manche nennen es Vorherbestimmung, doch daran mag der Mann nicht glauben. An Schicksalsfügung ja. Die Wege zweier menschlichen Wesen kreuzen sich. Häufig geschieht dies, ohne dass sie einander bewusst wahrnehmen. Mitunter führen sie eine kurze Unterhaltung. Oder sie schließen ein Geschäft ab. Haben Sex miteinander. Und manchmal tötet das eine Wesen das andere. Aber all dies passiert nicht aus einer Bestimmung heraus. Die Entscheidung über ihr Handeln liegt bei den Menschen. George war in die Kneipe gegangen mit dem Plan, dort Bier zu trinken. Und weil er auf dem Schild gelesen hatte, dass dort Guinness ausgeschenkt wird. Und Georgina? George sitzt an dem blauen Tisch und überlegt. Er weiß es nicht. Sie hat es ihm nie erzählt, warum sie an diesem Abend in die Kneipe gekommen waren. Georgina und ihre Schwester. So hatte sie die Frau in ihrer Begleitung genannt. Der Mann bewegt leise lächelnd den Kopf hin und her. Hatten die Beiden bereits an der Bar gesessen, als er hereinkam? Oder betraten sie nach ihm die Kneipe? Er weiß noch, dass er an einem Tisch platz genommen hatte. Und aus den Lautsprechern war Musik zu hören. Aber er kann sich nicht mehr daran erinnern, was für welche es gewesen ist… Es ist Zeit geworden, dass George sich zur Arbeit begibt. Auch dorthin fährt er mit dem Fahrrad. George besitzt kein Auto, hat auch nie eine Fahrerlaubnis dafür erworben. Eine knappe halbe Stunde, nachdem er von seiner Wohnung losgefahren ist, stellt er das Rad vor dem Fabrikgebäude ab und betritt die Produktionshalle. Es ist sein zweiter Arbeitstag dort; er wurde zur Spätschicht eingeteilt. George Oremora hat schon einiges an Arbeit hinter sich gebracht. Im Lager hat er gearbeitet, hat Metallfässer mit Hammer und Meißel aufschlagen müssen, ist Gabelstapler gefahren, war auf Montage. Alles nur befristet, mitunter lediglich ein paar Wochen, dann treibt es ihn weiter, zu einem anderen Ort, in eine andere Stadt, mit anderen Kneipen und Menschen. Und nun ist er hier, greift heiße Brotbackformen vom Fließband, stapelt sie zu Türmen. Schwere Maloche, wie immer, die ihn den Lärm in seinem Inneren vergessen helfen soll;das Leid, die Angst, den Hass, die Stimmen all dieser Menschen, die dort wohnen in den Städten. Ihre Emotionen, die sie voreinander und oft auch vor sich selbst zu verbergen versuchen; George nimmt sie wahr. Er kann sie spüren, wie elektrisch geladene Teilchen, die in seinen Körper dringen. Und je näher Menschen ihm kommen, um so intensiver wird dieser Beschuss von den Teilchen. Wenn George dies nicht mehr aushalten kann, muss er fliehen, fort von diesen Menschen und ihren Gefühlen, die auf ihn eindringen. Zwar hat er nach und nach gelernt, diese Flut von Emotionen einzuordnen, sich bewusst gemacht, dass sie von außen kommen, genau wie die Stimmen, das ständige Flüstern, Raunen, Stöhnen in seinem Kopf. Es waren menschliche Gefühle. Nicht wie das, was er dort in der Behörde in Raum 234 zu spüren bekommen hat. Er weiß nicht, was es gewesen ist. Er kann es nicht benennen. „Ich habe an dem Abend Deine Gedanken aufgefangen.“ George kann es erst kaum glauben, was die Frau zu ihm sagt. Sie sitzt ihm in seiner Wohnung gegenüber, hat sich als Georgina Darling vorgestellt. Er hat Tee zubereitet, und nach und nach hat sein innerer Sturm sich gelegt. Ganz ruhig ist es auf einmal geworden, bis auf so ein kleines Wispern. „Manchmal kann ich auch die Träume anderer Menschen sehen.“ Nein, dies könne er nicht, sprach George. „Ich kann mich nicht mal an meine Träume erinnern.“ Ein Anruf von dem Arbeitskollegen reißt George aus seinen Gedanken. „Mensch, träum da nicht, arbeite!“ Vor ihm haben sich bereits mehrere der Backformen für Toastbrote angesammelt. Schnell sammelt er sie ab, spürt das heiße Blech durch den dünnen Stoff der Arbeitshandschuhe, und den Schweiß seinen Rücken hinabrinnen. Der menschliche Roboter knirscht mit den Zähnen, innerlich über die Entscheidung fluchend, hier Arbeit angenommen zu haben. Zumindest zwei der Gründe für diese Selbstkasteiung, der Lärm im Kopf und das Vibrieren der Nerven, haben seit dem Gespräch mit der Frau nachgelassen. Und der dritte Grund ist ein profaner: George bekommt dafür Geld, und mit dem Lohn schafft er es, sein Leben zu bestreiten, Miete zu zahlen, Essen zu kaufen, und sich Abende in Kneipen leisten zu können, wo er sich betrank, um den Leidensweg, als den er sein Leben betrachtet, ertragen zu können. Nach zwei Stunden erfolgt der Wechsel zu einem anderen Fließband. Dort sind die Backformen nicht mehr so heiß, dafür aber schwerer. Und George trifft für sich die Entscheidung, dass er dort nicht lange bleiben wird.
Close Encounters
Es sieht so aus, dass dort, wo er sich befindet, Nacht ist. Wenn er den Blick hebt, sieht er Sterne funkeln. Die Umgebung ist für ihn klar erkennbar. Es ist eine steppenartige Landschaft, vielleicht auch eine Wüste. Vor ihm taucht ein felsenartiges Gebilde auf. Es ist ein Berg, von dem ein rötlicher Glanz ausgeht, als würde er von innen heraus leuchten. Oder der Schein geht von den Sternen aus, die ihn anstrahlen. Und im selben Moment steht er auf diesem Berg, dessen Oberfläche sich wie ein Plateau um ihn herum ausbreitet. Die Sterne sind jetzt ganz nah. Er weiß, dass es sich um die Plejaden handelt, streckt seine Hände nach ihnen aus, als könne er sie berühren. Ihm gegenüber steht ein Mann. Er trägt einen weißen Bart, Gesicht und Körper sind mit den Symbolen der Wüstenbewohner bemalt. Der Mann bewegt den Speer in seiner rechten Hand zu ihm hin, sagt „jetzt bist Du hier“, und der so Angesprochene entschuldigt sich für seine Anwesenheit, weil er weiß, dass dies ein heiliger Ort ist. „Du bist hier, weil die Große Kraft es so gewollt hat“, erwidert der Wüstenmensch, „und deshalb ist es Dir erlaubt hier zu sein, in unserer Welt.“ „Ist es ein Traum?“ will der Mann wissen. „Ihr nennt es Traum, für uns ist es eine andere Ebene.“ „Warum bin ich hier?“ „Du bekommst eine Botschaft mit für Deine Menschen. Sie lautet, dass ihr aufhören müsst zu versuchen, die Zeit zu besiegen.“ „Die Zeit zu besiegen?“ „Ja. Haltet die Uhren an! Begebt euch in den Moment der Stille. Nur so kann verhindert werden, dass die Große Kraft stirbt und mit ihr der Planet Erde und alles Leben auf ihm.“ „Ich verstehe. Aber wie komme ich wieder zurück?“ Der Wüstenbewohner deutet mit dem Speer zum Nachthimmel. „Sieh hinauf zu den Sternen! Dann schließe die Augen, und Du wirst wieder auf Deiner Ebene sein…“ Er erwacht. Tageslicht dringt durch die zugezogenen Vorhänge des Schlafzimmerfensters. Ein Blick auf die Uhr gibt ihm Zeit genug. Auf dem Nachttisch neben der Uhr liegt Tabak mit Blättchen. Feuerzeug und Aschenbecher befinden sich auch auf dem Tischchen. Soll er duschen? Quatsch. Hat er doch gestern erst. Ein bisschen Wasser ins Gesicht und reichlich Deo unter die Arme, wie in der Werbung. Naja, fast. Im Kühlschrank steht lediglich ein Nussjoghurt. Der Sinn steht ihm nach Tiefkühlpizza, oder Ravioli. Und Chips. Das Bier ist auch alle. Genau wie das Geld. Und deswegen muss er jetzt los. Um sich welches zu besorgen. Er fährt von der Köllnischen Heide drei Stationen mit der S-Bahn, nimmt den Bus weiter, der ihn so gut wie direkt zu seinem Ziel bringt. „Name?“ „Kellner.“ „Vorname?“ „Rafael.“ „Geburtsdatum?“ „Fünfzehnter Februar.“ Die Frau hinter dem Schreibtisch schaut ihn an. „Neunzehnhundertsiebenundfünfzig.“ „Wohnhaft?“ Er verkneift sich einen Witz darüber, antwortet „Sonnenallee 293.“ Die Sachbearbeiterin vergleicht die Daten. „Haben Sie sich in letzter Zeit irgendwo beworben?“ „Ja. Ja klar, habe ich.“ Rafael breitet seine Arme aus. „Aber da ist nischt zu machen. Nirgendwo hat jemand Arbeit für mich.“ Die Frau hält ihm einen Scheck entgegen. „Den können Sie bei einem Geldinstitut bar einlösen.“ „Danke. Haben Sie noch einen schönen Tag.“ Eine Dreiviertelstunde später sitzt der Mann mit dem ersten geöffneten Bier des Tages auf einer Bank und sieht einer Gruppe von Jungs zu, die abwechselnd einen Basketball in einen Korb versuchen zu befördern. Aus dem Ghettoblaster schallt Musik, eine rüde Mischung aus Rap und Hardrock. ‚Das, was Euch Eure Führer als Sozialismus vorsetzen, ist das strikte Gegenteil von Sozialismus, ist erneute Knechtschaft, Ausbeutung, Terror usw., nur durch andere Personen ausgeführt. Schon in euren Zentralgewerkschaften habt ihr kein Selbstbestimmungsrecht, hier ist die Führerdiktatur vorherrschend.‘ Das hatte Rafael irgendwo gelesen, und es gab seine Ansicht über so genannten Volksvertreter wieder, die, so kommt es ihm vor, lediglich Theater aufführen und dafür reichlich Diäten bekommen – von den ganzen anderen Zuwendungen mal jetzt gar nicht reden, die sie sonst noch einstreichen, für Vorträge und Beratertätigkeit bei irgendwelchen Konzernen. Er jedenfalls braucht diese Knallchargen nicht! Seine Mutter hatte ihn dahin erzogen, selbstständig Entscheidungen zu treffen und kritisch zu denken. Dies jedoch kam in der Schule nicht immer gut an, wenn er mit Lehrern anfing, über ihren Lehrstoff zu diskutieren, im Geschichtsunterricht beispielsweise, wo ein Persilnazi seine Vergangenheit schönreden wollte mit Sätzen wie „dem Hitler haben wir die Autobahnen zu verdanken“ und anderes Gebügel, selbstverständlich immer im Rahmen des Sagbaren bleibend, auch wenn es den Frontalpädagogen schon gereizt hatte, mal ordentlich loszulegen. Das kitzelte dann der vierzehnjährige Rafael bei ihm heraus, als er die Frage stellte, was denn mit den sechs Millionen Juden passiert sei. „Geschichte wird von Siegern geschrieben“, bekam er als Antwort zu hören, und dann, nachgeschoben: „Du kannst davon ausgehen, dass diese Zahl durch die Alliierten gefälscht worden ist.“ In der Pause begab der Junge sich zum Rektor und erstattete Meldung über den Vorfall, in dem festen Glauben, dort Unterstützung zu finden. Doch der Schulleiter, kurz vor der Pensionierung stehend, spielte die Begebenheit herunter, meinte, dass der „Herr Lehrer es bestimmt nicht so gemeint“ habe, und dass er immer schön brav dem Unterricht folgen solle. Die 5 im Fach Geschichte war es dann, die eine Versetzung in die nächste Klasse verhinderte, und auch die tröstenden Worte seiner alleinerziehenden Mutter, er habe absolut richtig gehandelt, konnte die daraus gewonnene Gewissheit nicht rückgängig machen, dass er in einem System aus Lügen und Korruption würde aufwachsen. Die drei Jungs haben ihr Spiel unterbrochen, scheinen etwas zu beratschlagen, und dann kommt einer von ihnen zu ihm hinübergelatscht. Er trägt eine blaue Sporthose und ein rotes ärmelloses Shirt, auf das in gelben Ziffern eine 23 gedruckt worden ist. „Wie sieht`s aus, Digga? Willst was kaufen?“ „Bitte?“ Es dauert eine Weile, bis bei dem Angesprochenen der Groschen fällt. „Ach so! Nee, danke. Ich hab alles, was ich brauche.“ Er hält kurz die Bierflasche hoch. „Und die würd ich gern noch in Ruhe austrinken, wenns euch nicht stört…“ Die Worte, höflich aber bestimmt an den Shirtträger gerichtet, kommen klar an, und mit einem „ja Mann, alles klar, Mann“ will er sich wieder seinen Sportkollegen zuwenden. „Was ich noch wissen wollte…“ Rafael deutet zu dem Ghettoblaster. „Der Name der Band würde mich interessieren.“ „Das sind Bodycount, zusammen mit Ice-T.“ „Coole Musik, gefällt mir.“ Während der Sänger sich über eine ‚KKK-Bitch‘ auslässt, landet der nächste Ball im Netz. Wieder zuhause betätigt Rafael den Knopf der Fernbedienung, zappt durch, bis er auf eine Doku beim SFB stößt. Auf dem Bildschirm ist der Ayers Rock zu sehen, ein wolkenloser Himmel rahmt den rostroten Fels ein. Rafael hat sich auf dem Sofa niedergelassen und sein zweites Bier aufgemacht. Eine Stimme erzählt von Urulu, dem heiligen Ort der dort lebenden Ureinwohner, und dass seit einigen Jahren… Rafael starrt auf das Felsgebilde, erinnert sich mit einem Mal an den Traum letzte Nacht oder auch in den frühen Morgenstunden, kurz bevor er aufgewacht ist, und kommt sich vor wie der Protagonist in ‚unheimliche Begegnung der 3. Art‘, der im Fernsehen den Devils Tower sieht und plötzlich weiß, warum er zwanghaft aus Rasierschaum, Kartoffelbrei und auch Gartenerde etwas formen wollte, von dem er nicht weiß, was und warum. Das Bild wechselt, und ein Aborigine erzählt von Songlines und Walkabouts, während eine Stimme aus dem off übersetzt. Da wird der Bildschirm dunkel, schemenhaft spiegelt sich Rafael darin, die Fernbedienung in der Hand haltend. Das Bier hat er auf dem Wohnzimmertisch abgestellt. Was hatte der Aborigine zu ihm gesagt? Er solle aufhören, anderen die Zeit zu stehlen? Nein. Die Uhren. Die Menschen müssten die Uhren anhalten, weil sonst...jemand sterben würde? Rafael schüttelt seinen Kopf. Was hatte der Mann in dem Traum noch gesagt? Keine Erinnerung. Rafael Kellner muss lachen. Unglaublich. Und dann findet er diese Doku! Zufälle gibts. Er drückt das TV-Gerät wieder an, nimmt einen Schluck aus der Flasche, schaltet weiter, bleibt bei einer Talkshow hängen, und hat kurze Zeit später die ganze Begebenheit vergessen.
Eat the rich
Die Frau schiebt mit einer Spülbürste die Essenreste von dem Teller, und befördert Kartoffeln, Gemüse, aber auch nicht aufgegessene Rinder- und Fischfilets in den dafür vorgesehenen Schweineeimer. Und, hat`s geschmeckt? Ja, aber sicher. Ist ja auch nicht billig, was die Köche da aus erlesenen Zutaten herrichten. Und warum fressen es die Leute dann nicht auf, was sie bezahlt haben, fragt sich die Frau, wäscht die letzten Teller und das Besteck mit der Hand ab, öffnet den fertigen Geschirrspüler und beginnt, ihn auszuräumen. Eben sind die letzten Gäste gegangen. Der Chef schließt die Tür hinter ihnen und macht sich an die Abrechnung. Er und die Frau sind jetzt alleine. Gleich hat sie Feierabend und wird nach hause fahren. Aber vorher… „Noch nen kleinen Absacker?“ „Klar, Dete, gerne.“ Die Küchenkraft streift die Gummihandschuhe ab und setzt sich auf einen der Barhocker. „Und was darfs sein?“ „Was trinkst Du?“ „Ich denke, heute Abend einen Grappa.“ „Gut. Für mich auch einen.“ Dete nimmt zwei passende Gläser aus dem Regal und schenkt ein. „Worauf trinken wir?“ „Vielleicht auf...weiterhin guten Umsatz?“ Dete stimmt lächelnd zu, „auf den Umsatz“, und nippt an seinem Grappa, während die Frau den Schnaps in eins wegzieht. „Noch einen?“ Sie nickt und hält ihm das Glas entgegen, bekommt es erneut vollgefüllt. „Auf Dich, Chef.“ „Auf Dich, Gee.“ Diesmal nippen beide. „Ja, der Laden läuft gut.“ „War nicht immer so, oder?“ Dete bewegt verneinend seinen Kopf. „Als ich das Ganze hier vor zwei Jahren übernommen habe, war er total heruntergewirtschaftet. Hab ich halt ein wenig das Konzept verändert…“ Die Frau nimmt einen weiteren Schluck vom Grappa. „Was mich ankotzt, ist, dass so viel von dem Essen zurückgeht.“ Der Restaurantinhaber nickt, trinkt sein Glas leer, schenkt auch sich noch ein zweites Mal nach. „Bert scheint`s egal zu sein, aber Ernie, der kriegt voll die Wut, wenn er das sieht.“ „Bert und Ernie?“ „Ja. Die beiden Köche. Ich finde, die sehen aus wie Ernie und Bert aus der Sesamstraße.“ Darüber muss Dete lachen, und dann kommt er auf einmal ins Sinnieren. „Einige der Gäste sind halt mit nem goldenen Löffel im Mund geboren. Die brauchten nie arbeiten, können quasi dabei zuschauen, wie sich ihr Geld vermehrt.“ „Sie lassen also ihr Geld arbeiten, wie es so schön heißt.“ Dete verneint. „Geld arbeitet nicht. Das ist eine der Lügen des kapitalistischen Systems. Menschen arbeiten. Menschen schaffen Werte.“ „Oder sie zerstören aus Profitgier die Umwelt“, entgegnet die Frau, und Dete pflichtet ihr bei. Er nimmt die leergetrunkenen Gläser und stellt sie gesäubert ins Regal zurück. „So, Feierabend. Mein Schatz wartet schon zuhause auf mich.“ Die beiden Menschen verlassen das Restaurant, Dete steigt in sein Auto, die Frau in die Straßenbahn zum Hauptbahnhof. Auf dem Bahnhofsvorplatz wird sie von einer jungen Frau um eine Mark angeschnorrt. Sie holt ihre Brieftasche raus, überlegt kurz, um dann dem Mädchen einen Fünf-Markschein entgegenzuhalten. Das Mädchen ergreift das Geld und wendet sich dem nächsten Passanten zu. Die Frau schaut ihr nach, wird durch die Begegnung an sich selbst erinnert, wie sie, im Winter 1981, vor dem Berliner Hauptbahnhof Leute um Geld anbettelte. Da war sie fünfzehn gewesen. Ihre Mutter hatte sich drei Monate zuvor im Keller ihres Einfamilienhauses erhängt; der Vater suchte Trost im Alkohol und bei ihr. Irgendwann nahm sie nach der Schule im Nachbarort den Bus nicht mehr zurück, kaufte sich von dem aus der Geldbörse ihres Vaters entnommenen Geld eine Zugfahrkarte, im Rucksack einen Schlafanzug, Wäsche zum wechseln, sowie das Pausenbrot und den Marsupilami, den ihr die Mutter zum Geburtstag geschenkt hatte. Am dritten Tag machte sie Bekanntschaft mit Zotty, einer ein paar Jahre älteren Punkfrau, die in einem besetzten Haus in Kreuzberg wohnte, und sie unter ihre Fittiche nahm. In einem Zimmer dort konnte sie sich einquartieren, lernte nach und nach die anderen Bewohnerinnen und Bewohner kennen, unter ihnen eine Eva, die über ein Einkommen verfügte und damit zum großen Teil die Kommune versorgte. Eines Abends drangen laute Stimmen aus dem für Versammlungen genutzten Raum. Als sie mehr besorgt als neugierig die Tür öffnete, stritt Eva dort mit zwei Männern, die das Mädchen nicht kannte. Auf dem Tisch lagen gebündelte Geldscheine und Waffen unterschiedlicher Bauart. Sie wollte, eine Entschuldigung murmelnd, die Tür wieder schließen, da wurde sie von Eva hereingerufen, die sagte, dass sie den Grund für das Streitgespräch darstellte. An diesem Abend erfuhr sie, dass in dem Haus eine Zelle agierte, die sich zum Ziel gemacht hatte, das imperialistisch-faschistische System zu bekämpfen, und von Eva der Vorschlag gekommen war, das Mädchen in diese Aktivitäten mit einzubeziehen. Die zwei Männer sprachen sich anfangs dagegen aus, aber das Mädchen konnte sie überzeugen, sagte, ihr Vater sei ein Nazibulle, der sich an ihr vergangen habe, und sie bereit dazu sei, es dem Schweinesystem heimzuzahlen. So wurde ihr als erstes ein Pass besorgt, der sie drei Jahre älter machte und ihr eine neue Identität verlieh: Georgina Darling. Ihre Aufgabe wurde es, Orte auszukundschaften, an denen Anschläge verübt werden sollten. Zudem zeigte sie Geschick beim Zusammensetzen von Zeitzündern, und sie reinigte und lud Waffen. Eines Tages war Eva verschwunden. Man sagte Georgina, sie sei an einen anderen Ort zu einer anderen Gruppe versetzt worden. Als das Mädchen hörte, dass im Zuge des Widerstandskampfes auch Attentate auf Menschen aus Politik und Wirtschaft verübt werden sollten, schnappte sie sich die in einem Versteck gelagerte Glock und 150 Mark aus der Gemeinschaftskasse und nahm den Transitzug bis zum Grenzübergang Helmstedt. Sie suchte sich in Braunschweig ein günstiges Hotelzimmer, und als nach drei Tagen das Geld aufgebraucht war, betrat sie kurz vor der Schließung eine Sparkassenfiliale und forderte von dem zu dieser Zeit dort alleine diensttuenden Angestellten mit vorgehaltener Waffe die Herausgabe des Geldes. Der Mann, zugleich auch Filialleiter des Geldinstitutes, hätte den Knopf für den stillen Alarm drücken können, der ihn mit der Polizeistation verband, sah aber dieses Geschöpf dort stehen mit dem um das Gesicht gewickelten Schal und in der zitternden Hand die Pistole, sagte „Mädchen, mach Dich doch nicht unglücklich“. Im selben Augenblick brach die so Angesprochene in Tränen aus. Der Bankangestellte kam hinter dem Schalter hervor, schaute zur Uhr und schloss die Tür ab. Der gut zwanzig Jahre ältere Filialleiter, der den Vornamen Werner trug, besorgte der Ausreißerin eine Wohnung, konnte sie dazu überreden, ihren Realschulabschluss nachzumachen, und sah in ihr die Tochter, die er sich in der bis zu diesem Zeitpunkt fünfzehn Jahre bestehenden kinderlosen Ehe so sehr gewünscht hatte. Für das Mädchen war Werner jedoch nicht der Ersatzvater, und das gab sie ihm bei einem seiner Besuche in ihrer Wohnung unzweideutig zu verstehen. Neun Monate darauf gebar Georgina einen Jungen, ein Jahr später folgte ein Mädchen. Werner hielt dieses Doppelleben noch eineinhalb Jahre aufrecht, um endlich die schon seit langem als zerrüttet anzusehende Ehe zu beenden, und mit seiner Familie in ein kleines Eigenheim am Rande von Hannover zu ziehen. Werner konnte mit seiner Betätigung als Vermögensberater ihnen ein sorgenfreies Leben gewährleisten, während seine Partnerin ihre Rolle als Hausfrau und Mutter anstands- und klaglos ausfüllte. Lediglich zu einer Eheschließung war Georgina nicht bereit. Die Jahre gingen dahin, und irgendwann begann sich in der Frau eine innere Unruhe auszubreiten. Oft saß sie nur da und lauschte, nach irgendetwas, das ihr sagen konnte, wie es weitergehen solle. Werner fiel nichts auf, störte sich nicht an den immer öfter sich türmenden Bergen ungewaschener Wäsche, oder dass statt selbst gekocht ein Lieferservice angerufen wurde. Das Leben lief weiter, bis zu jenem Abend, an dem sie ihm sagte, dass sie sich fühle wie in einem Gefängnis, ihr die Luft zum atmen fehle, und dass sie weitermüsse, auch wenn sie noch nicht wüsste, wohin. Werner akzeptierte ihre Entscheidung, denn er wusste, dass es zwecklos sein würde, zu versuchen, Georgina zum weiteren Bleiben zu überreden. Am darauffolgenden Tag war sie fortgegangen, und weder Werner noch die Kinder sollten je erfahren, was aus ihr geworden ist. Georgina schließt die Tür zu ihrem Studio auf, findet eine Nachricht von George auf dem Anrufbeantworter. Wenn sie Lust auf ihn habe, würde er sich über einen Besuch von ihr freuen, sagt die Stimme. Seine Schicht geht bis fünf. Wenn sie möchte, könne er für sie beide etwas kochen. Bis nachher. Die Frau duscht sich den Arbeitsschweiß und -geruch vom Körper, zieht ihr Nachthemd an, liest noch etwas in einem Buch, und alsbald fallen ihr die Augen zu. So löscht Georgina das Licht, und kurz darauf ist sie eingeschlafen. Im Traum sieht sie einen ihr unbekannten Mann. Er sagt, dass er ihre Träume aufschreiben will und dass er sie in der Echtzeit treffen müsse. Am nächsten Morgen fasst Georgina einen Entschluss, da sie weiß, wo sie den Mann finden kann.
Am 11. Oktober geht es weiter...