Gedanken über Anarchismus
Fernando Pessoa schreibt in seinem Buch `Ein anarchistischer Bankier´: „Das wahre Übel, das Übel schlechthin, sind die gesellschaftlichen Konventionen und Fiktionen, die sich über die natürlichen Gegebenheiten legen – angefangen von der Familie bis hin zum Geld, von der Religion bis zum Staat. Man wird als Mann oder als Frau geboren – ich will damit sagen, man wird geboren, um als Erwachsener einmal Mann oder Frau zu sein; man wird aber nach den Gesetzen der Natur nicht geboren, um Ehemann oder um reich oder arm zu sein, ebenso wenig kommt man als Katholik oder Protestant, als Portugiese oder Engländer zur Welt. All das wird man nur unter dem Einfluß gesellschaftlicher Fiktionen. Warum aber sind diese gesellschaftlichen Fiktionen schlecht? Weil es sich um Fiktionen handelt, weil sie nicht natürlich sind. Der Staat taugt ebenso wenig wie das Geld, die Religionen genau so wenig wie eine Familiengründung. Gäbe es andere Fiktionen dieser Art, wären sie genau so schlecht, weil es auch nur Fiktionen wären, weil sie sich auch nur über die natürlichen Gegeben-heiten legen würden und diesen im Weg wären. Und jedes System – außer dem rein anarchistischen, das ja all diese Fiktionen samt und sonders abschaffen will – ist auch nur eine Fiktion...“
Demzufolge ist Anarchismus kein Gesellschaftsmodell, folgt auch keiner politischen Richtung, sondern ist eine Anleitung, oder besser: eine Empfehlung an den Einzelnen, sein Leben so zu gestalten, daß er sich zumindest teilweise von den oben beschriebenen äußeren, gesellschaftlichen Zwängen befreit. Das beinhaltet Entscheidungen wie zum Beispiel statt mit dem Auto zur Arbeit zu fahren das Rad oder öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen (beziehungsweise überhaupt aufzustehen und sich zur Arbeit zu bewegen oder lieber liegen bleiben und „blau machen“ ), gehe ich zur Wahl und mache den Wahlschein ungültig, anstelle irgendeine Partei zu wählen (da die Regierung nach dem fragwürdigen Mehrheitsprinzip aufgebaut ist), trete ich aus der Kirche aus, um künftig keine Steuern mehr für eine Religionsgemeinschaft zu zahlen...
Und im Bezug zu anderen Menschen heißt dies, jedem erst einmal mit Achtung zu begegnen, vorurteilsfrei, egal, wie er aussieht, was er für Kleidung trägt, welcher Religion er angehört usw...
In seinem Buch „the Equinox – a Journal of scientific Illuminism“ schreibt Aleister Crowley folgendes: „Der Mensch hat das Recht, nach seinem eigenen Gesetz zu leben - so zu leben, wie er es gewillt ist zu tun, zu arbeiten wie er will, zu spielen wie er will, zu ruhen wie er will, zu sterben wann und wie er will. Der Mensch hat das Recht, zu essen was er will, zu trinken was er will, sich auf dem Antlitz der Erde zu bewegen wie er will. Der Mensch hat das Recht, zu denken was er will, zu sprechen was er will, zu schreiben was er will (…), sich zu kleiden wie er will. Der Mensch hat das Recht zu lieben wie er will. Der Mensch hat das Recht, jene zu töten, die ihm diese Rechte streitig machen...“
Der Forderung „zu sprechen was er will, zu schreiben was er will“ kann ich spätestens dann nicht mehr zustimmen, wenn Faschisten gegen andere Menschen hetzen (und ihnen damit die Freiheit nehmen wollen, so zu sein wie sie sind oder wie sie sein möchten).
Allerdings in diesem Fall auf Crowleys Schlussforderung zurückgreifen zu wollen, ginge vielleicht etwas zu weit...
Während ich den Text hier schreibe, ärgere ich mich über die Widersprüch-lichkeiten, die er aufwirft, entscheide mich aber dagegen, ihn so umzu-schreiben, daß er widerspruchslos wird. Denn auch dies ist das Los des Anarchisten: er lebt jeden Tag im Widerspruch, zu sich, zu seinen Mitmenschen, zu der Gesellschaft, in die er hineingeboren wurde.
Und somit wird er, zeit seines Daseins, wohl nie an seinem Ziel ankommen (was immer das sein mag)...
Christian C. Kruse
Kommentar von Olam Yetsira:
Der Autor (Fernando Pessoa) nennt die gesellschaftlichen Konventionen (Familie, Geld, Religion, Staat) 'Fiktionen', und begründet diesen Ausdruck damit 'weil sie nicht natürlich sind'. Nun sind Konventionen Vereinbarungen, die im Laufe der menschlichen Entwicklung getroffen wurden (und jeden Tag neu getroffen werden, um ein Leben miteinander (als Familie, auf der Arbeit, innerhalb einer Gesellschaft) zu ermöglichen. Man kann sie auch 'soziale Übereinkünfte' nennen. Und in dem Augenblick, wo sie getroffen werden, und Handlungen danach ausgeführt werden, sind sie nicht mehr 'fiktional', sondern real existent. Will nun, wie im Anarchismus gewünscht, der Einzelne sein Leben weitestgehend ohne diese Übereinkünfte (im Text als 'gesellschaftliche Zwänge' bezeichnet) gestalten, stößt er innerhalb egal welchen gesellschaftlichen Gefüges schnell an seine Grenzen, respektive an die seiner Mitmenschen. Der Mensch hat, zumindest in einem gesellschaft-lichen Rahmen, gar nicht die Möglichkeit, 'nach seinem eigenen Gesetz zu leben', so wie A. Crowley es formuliert, sondern er hat die Gesetze der Anderen (kulturell, religiös) zu achten. Dies gilt für die kleinsten gesellschaftlichen Verbände (Paar, Familie), als auch für Staaten. Würde dies respektiert, gäbe es (in letzter Konsequenz) keine Kriege, weder aus wirtschaftlichen noch aus Glaubensgründen.
Kommentar von Ätherboy 23:
Aleister Crowley hat meines Erachtens mit Anarchismus nun gar nichts zu tun!!!!
Kommentar vom Chaldäer:
Determinismus: 'Das Handeln des Menschen ist abhängig von unterschied-lichen Einflüssen. Es gibt keinen 'freien Willen'! Freiheit bedeutet, dass man aus Gründen handeln kann und nicht durch Ursachen gezwungen wird! Hierzu ein Auszug aus dem Artikel 'Quantenphysik und Echtzeitgesellschaft' von Claudia Nemat, erschienen in dem Buch 'Im Lichte der Quanten', herausgegeben von Christine und Frido Mann: "Im Jahre 2017 hat die amerikanische Zulassungsbehörde FDA die erste digitale Pille zugelassen. Die Hersteller, die Firmen Otsuka und Proteus Digital Health, haben neben dem Inhaltsstoff, einem Neuroleptikum, einen Sensor in die Pille integriert. Dieser Sensor erzeugt aus dem Inneren des Körpers heraus ein Signal, das über ein an der Haut angebrachtes Pflaster die Daten aufnimmt und in einer Cloud speichert. Somit wird der Patient oder die Patientin zu einer regelmäßigen Einnahme des verschriebenen Medikaments aufgefordert und in seiner Therapie unterstützt. Vollkommen ungeklärt ist dabei der Aspekt des Datenschutzes und der Datensouveränität. Es ist denkbar, dass diese Daten an eine Krankenkasse weitergegeben werden, die ihre Versicherungsleistung von der Einhaltung des Medikamentenplanes abhängig macht oder Krankentarife je nach gewünschtem Verhalten anpasst. Das könnte dazu führen, dass 'unvernünftige' Menschen nicht mehr versichert werden. Wird der Mensch in Folge vernünftiger - oder unselbständiger?"