Das Siegel des Salomon
Eine Geschichte von Christian C. Kruse
Sequenz fünfzehn
Julia hat an einem der Tische in dem Vortragsraum platz genommen. Einige der Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer führen Gespräche, andere sind mit ihren iPhones beschäftigt. Als Professor Vogelsang den Raum betritt, werden die Unterhaltungen eingestellt und die Mobilcomputer beiseite gelegt. Julia betrachtet den Mann, und er macht auf sie den Eindruck, als wäre er etwas durch den Wind, müsse sich erst orientieren, wo er sich befindet. „Wie versprochen, werde ich Ihnen heute das Thema der Klausur nennen.“ Mit dem Zeigefinger der linken Hand tippt Alexander gegen seine Lippen. Mit geöffneten Notebooks und vor sich liegenden Notizblöcken wird abgewartet. Auch Julia hält einen Stift bereit.
„Ich möchte, dass Sie… definieren Sie mir die Begriffe Informationen, Meldungen und Fakten. Dann definieren Sie Behauptungen, Mythen und Verschwörungstheorien. Dies bitte mit Ihren eigenen Worten und nicht nur Zitate aus Wikipedia. Und als drittes stellen Sie diese beiden Gruppen gegenüber, arbeiten die Gegensätze heraus, und finden dabei auch Gemeinsamkeiten, Schnittpunkte.“ „Was mir nicht ganz klar ist“, meldet sich eine Studentin zu Wort, „ist der Unterschied zwischen Mythos und Verschwörungstheorie.“ „Ist doch ganz einfach“, bekommt die junge Frau von einem hinter ihr sitzenden Kursteilnehmer zu hören. „Der Mythos besagt, dass John Lennon von einem geistig verwirrten Fan erschossen wurde. Und die Verschwörungstheorie dazu ist, dass der Attentäter unter Einfluß von Drogen stand, die der CIA ihm verabreicht hat – oder, Prof?“ Der Gefragte muss zugeben, dass er sich mit dieser Materie nun gar nicht auskenne, „aber befragen wir doch das Orakel!“ „Wen, was?“ „Na, das Internet. Da wird doch was darüber zu finden sein.“ Eine Studentin wird mit ihrem Smartphone als erste fündig. „Hier, ich hab`s schon! Mark David Chapman… führte vor der Tat ein unstetes Leben. Seit seiner Kindheit verehrte er die Beatles. Als Teenager war er zeitweise drogenabhängig und wurde in einer Nervenheilanstalt behandelt. Mit sechzehn schloss er sich den evangelikalen Born again-Christians an… Nach einem Nervenzusammenbruch steigerte sich seine Bewunderung für die Beatles und John Lennon zur Besessenheit… Chapman hat seine Sichtweise auf Lennon maßgeblich nach dessen Interview am vierten März 1966 verändert, in dem Lennon sagte, „we are more popular than Jesus“ – etwa wir sind jetzt populärer als Jesus.“ „Also war es eine religiös motivierte Tat?“ „Also ich hab mal irgendwo gehört oder gelesen, dass der Typ unter dem Einfluß des CIA stand.“ „Moment, es geht noch weiter… hier: Verschwörungstheorien. Der Rechtsanwalt und erfolgreiche Autor Fenton Bresler stellte in seinem Buch who killed John Lennon? 1989 die These auf, Chapman sei kein verrückter Einzeltäter gewesen, sondern durch die CIA durch gezielten Einsatz von Drogen und Gehirnwäsche im Rahmen des MK-Ultra-Programmes programmiert worden, den Mord an Lennon auszuführen.“ „Wusst ich`s doch!“ „Nach Breslers Auffassung diente die Hilfsorganisation World Vision, für die Chapman arbeitete, als CIA-Tarnorganisation mit Verbindung zur Sekte Peoples Temple. Motiv für den Mord sei Lennons prominente Kritik an der Außen- und Innenpolitik der USA gewesen.“
„Okay. Diese Aussagen werden als Verschwörungstheorien bezeichnet. Aber der Begriff Mythos ist dabei nicht gefallen.“ „Na, was ich halt zu Anfang gesagt habe. Der Mythos ist, dass dieser Chapman ein geistesgestörter Einzeltäter war.“ „In erster Linie handelt es sich hier um Behauptungen, oder auch Thesen. Dieser Begriff wird richtigerweise in dem Zusammenhang mit dem Buch von 1989 genannt.“ Alexander Vogelsang hat wieder in seine Rolle des dozierenden Professors gefunden. „Ein Mythos… ist beispielsweise das Ungeheuer von Loch Ness.“ „Von dem behauptet wird, dass es tatsächlich existiert.“ „Ja, auf der Grundlage von irgendwelchen unscharfen Schwarzweißfotos. John Lennon dagegen ist erwiesenermaßen tatsächlich erschossen worden. Mythen sind anzusiedeln im Reich der Legenden, der Sagen. Menschen können die Gestalten von Tieren annehmen, als Beispiel, und umgekehrt… Aber wie wird ja so gerne behauptet: In jeder Legende steckt ein Körnchen Wahrheit“, schließt Alexander mit einem spitzbübischen Lächeln seine Ausführungen.
Schlagartig erinnert sich Julia an ihren Traum. ‚Wir brauchen Deine Hilfe. Nimm Kontakt zu uns auf. Alex kann Dir dabei helfen.‘ Das hat die Vogelfrau zu ihr gesagt. In ihrem Kopf beginnt es zu rauschen, die Umgebung verschwimmt; nur noch bruchstückhaft bekommt sie mit, was um sie herum geschieht.
„Kann ich Ihnen helfen? Ist Ihnen nicht gut?“ In Julias Blickfeld ist das Gesicht Professor Vogelsangs gerückt. „Ich...warum haben Sie das gesagt, mit den Menschen, die sich in Tiere verwandeln können?“ Alexander runzelt über diese Frage die Stirn. „Das war ein Beispiel für die…“ Neinnein! Letzte Nacht habe ich einen Traum gehabt. Darin...da habe ich von so etwas geträumt.“ Alexander hat sich einen Stuhl genommen und sich neben die junge Frau gesetzt. Julia schaut sich um. In dem Raum befindet sich sonst niemand mehr. „Mögen Sie mir Ihrem Traum erzählen?“ „Es war hier. Hier in dem Raum. Sie standen vorne und malten etwa an eine Tafel, und da tauchte plötzlich ein Vogel auf, flatterte vor meinem Gesicht herum… und dann saß da auf einmal diese Frau.“ „Was ist das für ein Vogel gewesen?“ „Was? Eine Krähe. Oder eine Eule. Ich weiß nicht mehr, was Sie da gezeichnet haben.“ „Können Sie sich erinnern, wie die Frau ausgesehen hat?“ „Warum wollen Sie das alles wissen? Die Frau… sie hatte nichts an.“ Julia hat begonnen, an ihren Handgelenken zu kratzen. „Sie hat zu mir gesprochen. Sie sagte, ich solle zu jemandem Kontakt aufnehmen, und irgendein Alex würde mir dabei helfen.“
Alexander betrachtet das neben ihm sitzenden Mädchen, richtet seine nächste Frage an sie: „Wissen Sie, wer Ihre Mutter ist?“ „Was?“ Julia starrt den Mann an, ihre Augen zwei grüne Feuer. „Warum fragen Sie das? Wer sind Sie? Sind Sie dieser Alex?“ Julia sieht, wie der Professor seinen Kopf auf- und abbewegt, kaum merklich, aber dafür sind die folgenden Worte um so spürbarer. „Ihre Mutter hat in dem Traum Kontakt zu Ihnen aufgenommen. Ich kann Sie zu ihr bringen.“ So, jetzt reicht`s! Julia springt auf, der Stuhl klappert hinter ihr auf den Boden, greift sich ihre Stofftasche und läuft zum Ausgang. „Warten Sie, bitte!“ Alexander ist ebenfalls aufgestanden. „Lassen Sie mich das ganze doch erklären.“ Die Fliehende dreht sich nur noch kurz zu ihm um, „Sie können mich mal“, reißt die Tür auf und lässt sie mit Wucht hinter sich wieder ins Schloss fallen.
Alexander steht da, die Arme kraftlos an den Seiten herabhängen lassen. Scheisse, denkt er, Scheisse, das habe ich jetzt aber gründlich vermasselt. Er sucht seine Brieftasche hervor, schaut in das Geldfach. Jetzt ist sowieso nichts mehr daran zu ändern. Er verlässt den Raum und macht sich auf den Weg in die Cafeteria.
„Was ist denn da los?“ Die drei entsteigen dem Entenmobil und starren auf das Szenario, welches sich dort in vielleicht zwanzig Metern Entfernung abspielt. Gestalten in Schutzkleidung sind dabei, mit Motorsägen Bäume zu fällen. Am Waldrand stehen Maschinen bereit, die die Stämme und das Astwerk schreddern. Büsche werden mit einem Bagger herausgerissen und auf einen Kipplaster geworfen. „Das dürfen die nicht! Die sollen sofort damit aufhören!“ Mit Wut und Verzweiflung will Susha auf den Rodungstrupp zustürzen, wovon sie Alles-zu-spät abhalten kann. „Angekündigt hatten sie es schon, aber daß es so schnell gehen würde…“ „Wer sind ’sie’, und was wurde angekündigt?“ raunzt Susha den Treckernomaden an, der Nichtschuld signalisierend seine Hände hebt. „Vor zwei Wochen oder so hat Diego Post bekommen von der Gemeinde. Darin wurde er aufgefordert, seine Hütte zu räumen, da das Waldstück demnächst gerodet werden würde.“ „Aber das geht doch nicht! Die können doch nicht so einfach…“ „Es lag ein Gutachten vor, demzufolge der Wald nur noch aus Totholz bestünde beziehungsweise die Bäume von Krankheiten befallen wären.“ „Aber das stimmt nicht! Die Bäume sind nicht tot! Ich spüre ihre Schmerzen!“ Morgen-ist-eh-alles-zu-spät hat zur Beruhigung seine Hand auf Sushas Rücken gelegt, mit der anderen deutet er zu dem Geschehen. „Ist das da D.B.?“ Zwischen den Baumfällern läuft eine weißgekleidete Gestalt hin und her, mal beschwörend die Arme hebend, dann versuchend, die Firmenangestellten an ihrer Arbeit zu hindern, dies jedoch erfolglos.
„Wartet hier, ich werde mal schauen, was sich da machen lässt.“ Susha und Morgen-ist-eh sehen Mikesch auf Diego und die mit der Rodung Beschäftigten zugehen, einen Wortwechsel führen, anschließend Diego von dem Trupp wegleiten. Mikesch und D.B. stehen beieinander und palavern, wild gestikulierend der eine, beschwichtigend der andere, während die Kettensägen und Schredder weiterhin ihre vernichtende Arbeit tun. Und auf einmal wendet der Weißgekleidete sich ab und läuft in den Wald hinein. Mikesch dreht sich erst einmal eine Zigarette und nähert sich daraufhin dem Rodungstrupp.
„Was geschieht denn da bloß?“ will Susha wissen, und der bei ihr stehende Mann kann nur vermuten. „Vielleicht hat er Diego überreden können, mit uns mitzukommen, und er holt jetzt noch was Wichtiges aus seiner Hütte. Und währenddessen...kann Mikesch vielleicht etwas von den Leuten da erfahren.“ „Vielleicht, vielleicht. Scheiße!“ Susha geht auf und ab wie ein gefangener Tiger im Käfig, nagt an ihren Fingerknöcheln. Alles-zu-spät hält der Frau seine Zigarettenschachtel entgegen, fragt „rauchen Sie?“, was Susha verneint. So nimmt er für sich eine Zigarette aus der Packung, entzündet sie mit einem Feuerzeug, inhaliert den Rauch. Auf einem neben dem Feldweg liegenden Acker haben sich mehrere Krähen versammelt, die Nahrung aus den frischgepflügten Schollen picken.
„Da! Er kommt zurück!“ Susha wendet den Blick von den Tieren, sieht, daß Diego aus dem Wald herausgetreten ist und auf sie zukommt. Unter den Arm geklemmt trägt er etwas, das in eine blauweiße Plastiktüte gewickelt ist. Mikesch verabschiedet sich von dem Trupp und folgt ihm. „Susha! Susha, meine Süße! Da bist Du ja!“ Susha eilt los, in seine weit geöffneten Arme, und so stehen die Beiden da, auf dem Feldweg, während im Hintergrund Maschinen weiterhin dabei sind, einen Teil ihrer Welt zu vernichten. Nach einer Weile lösen sie sich voneinander, wenden sich Mikesch und Morgen-ist-eh zu. „Und woher kennen wir uns?“ Morgen-ist-eh streckt D.B. die Hand entgegen. „Ääh, bisher sind wir uns noch nicht persönlich begegnet. Ich bin Morgen-ist-eh-alles-zu-spät.“ Diego ergreift seine Hand, muss dafür die Plastiktüte in die andere Hand wechseln. „Also, wohin fahren wir?“ „Zum Hof der Gewürzhändler. Dort soll das Siegel des Salomon gebildet werden.“ „Ah, ja. Ja, schön. Vorne oder hinten?“ „Bitte?“ „Wo soll ich einsteigen?“ „Wo Sie wollen.“ „Dann geh ich nach hinten. Susha?“ „Ich komm zu Dir auf die Rückbank. Was hast Du denn da in dem Beutel?“ „Oh. Den Gedankenaufzeichnungsapparat. Mikesch meinte, ich solle noch etwas aus der Hütte retten.“ „Apropos: konntest Du etwas von den Leuten erfahren, warum der Wald gerodet wird?“ wendet sich Morgen-ist-eh an den Treckernomaden, während er den Motor startet und das Auto wendet. „Nur so viel, daß ihre Firma den Auftrag bekommen hat, das Waldstück dem Erdboden gleichzumachen – mit Allem, was sich darin befindet.“ „Der Auftrag kam vom Landkreis? Oder von der Gemeinde, oder welche Behörde da jetzt zuständig ist?“ „Eben nicht. Von Denen hatte Diego lediglich die Räumungsaufforderung gekriegt. Den Auftrag für die Rodung hat jemand anders erteilt. Genaues wussten die Angestellten da auch nicht. Gerüchten zufolge handelt es sich um irgendeinen Großkonzern.“ „Woher wussten die eigentlich Deine Adresse?“ fragt Susha den neben ihr sitzenden Mann. „Deinen Aufenthaltsort wolltest Du doch geheim gehalten, oder?“ „Hihi, richtig! Deswegen habe ich für die Meldeadresse auch einen falschen Namen angegeben…“ Er kichert weiter. „...Mit extra dafür angefertigtem Personalausweis und so weiter.“ Plötzlich wird Diego ernst, kratzt sich am Ohr. „Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, daß hinter all dem mein Bruder steckt. Dass er herausgefunden hat, wo ich wohne, und nun seine Beziehungen hat spielen lassen…“ „Dein Bruder?“ Zeitgleich kommt von Susha und Mikesch die mit Erstaunen gestellte Frage. „Ach so, ja. Manuel. Manuel deMontesa ist mein Bruder. Wir sind Zwillinge. Er ist zehn Minuten früher auf die Welt gekommen.“ Susha checkt als Erste, von wem die Rede ist. „Mister Abaw ist Dein Bruder.“ „Ich glaube, ich halte mal besser an, reagiert Morgen-ist-eh, und fährt den Citroën an den Straßenrand, stellt den Motor ab. „Ich denke, dass Du uns etwas zu erklären hast.“ Sushas Stimme klingt beherrscht, aber es schwingt eine innere Angespanntheit mit. Sie lassen Diego Zeit, die er benötigt, um sich zu sammeln, dann hören die Drei, was er ihnen zu erzählen hat.
„Ja, also, mein...unser Vater war Mitglied des Ritterordens von Montesa. Sein Titel dort lautete Caballero de la Orden de Montesa. Dieser Orden wurde irgendwann, ich glaube 1316, gegründet, von einem Jakob von Aragon. Dies geschah nach der Auflösung des Templerordens einige Jahre zuvor, weil dieser nach Ansicht des damaligen Papstes und auch des französischen Königs zu viel Macht erlangt hatte, vor allen Dingen wohl wegen der Umgehung des Zinstabus, und der nicht nur daheraus angehäuften Güter…“ Diego öffnet die Hintertür des Autos, um auszusteigen, zieht sie sogleich wieder zu, weil ein Traktor die Straße nimmt. Als dieser vorbei ist, tritt der Mann ins Freie, die anderen tuen es ihm gleich. Diego erleichtert sich am Rande einer Wiese, Morgen-ist-eh entzündet sich eine Zigarette, zerknüllt die nun leere Schachtel, wirft sie ins Auto. Nachdem Diego sein Wasser abgeschlagen hat, wischt er die Hände am Gras ab, kehrt zu den Wartenden zurück.
„Einer unserer Vorfahren war der letzte Großmeister des Ordens. Er erlebte das Ende des Heiligen Römischen Reiches mit und glaubte an die Prophezeiung des Propheten Daniel, dass damit der Antichrist auf die Welt käme. Er ließ die Schätze des Templerordens in ein geheimes Versteck bringen, das ausschließlich durch mündliche Überlieferung an den nächsten Nachfolger weitergegeben wurde.“ „Dieser Vorfahr lebte bereits in Deutschland?“ Es ist Susha, die diese Frage stellt. „Ja. Er heiratete eine Deutsche Adlige, um so in den Adelsstand zu gelangen. Und aus dem Ordenstitel wurde ein Familienname.“ „Dann war also der ursprüngliche Name nicht de Montesa, sondern…“ „...Rodriguez. Glaube ich zumindest, mich richtig zu erinnern.“
„Das ist schon eine abgefahrene Geschichte“, merkt der Treckernomade an, und Morgen-ist-eh fragt, ob sie weiterfahren wollten, doch Susha will erst hören, wie die Geschichte weitergeht. „Im Alter von zehn schickte uns Roland, so hieß unser Vater, uns auf ein Internat. Dort wurde neben den üblichen Fächern – Deutsch, Englisch, Mathe – auch Religionsunterricht verabreicht; dies nach den Lehren des Bernhard von Clairvaux. Irgendwann, wir waren wohl um die vierzehn, fünfzehn, bildete sich eine kleine Gruppe, die sich abends traf, um über die Inhalte des Religionsunterrichts zu diskutieren. Mit dem Professor, ein alter Zisterziensermönch, war dies nicht möglich. Da hieß es friss oder stirb…“ „Das hört sich an wie ‚Der Club der toten Dichter‘“ fällt Morgen-ist-eh dazu ein. „Was ist das?“ fragt Diego nach, und bekommt kurz die Handlung des Films umrissen. „Ah ja, schön. Mit dem Unterschied, dass uns kein Dozent dazu ermutigt hat. Nach außen hin wirkte alles modern und aufgeschlossen, doch hinter den Mauern in den Klassenzimmern ging es sehr rigide zu.“ Diego kratzt sich am Hinterkopf. „Hat eventuell jemand ein Bier dabei?“ Bedauerndes Kopfschütteln. „Aber wir kommen an einem Edeka-Markt vorbei“, weiß Mikesch. „Ich hab aber kein Geld mit.“ „Ich kann bezahlen.“ Die vier nehmen ihre Plätze ein und setzen die Fahrt fort.
„Du und Manuel, ihr wart also in dieser Gruppe“, greift Susha kurz darauf den Erzählfaden wieder auf. „Richtig. Wir stritten um die Frage, ob Gott eine Gestalt hat, also als eine Person anzusehen ist, oder ob es sich um eine Kraft handelt, die in allem Lebendigen zu finden ist, so wie es einst Meister Eckart bezeichnete.“ „Welchen Standpunkt vertrat Manuel?“ „Oh, er glaubte fest an den Schöpfer des Universums, so wie es im Ersten Buch Mose geschrieben steht. Aber Jesus Christus als den Messias erkannte Manuel nicht an. Da hatte er damals eine andere Vorstellung, nur kann ich mich nicht mehr daran erinnern, was es gewesen ist.“ „Und woran hast Du geglaubt?“ Nun ja, ich hegte schon damals Zweifel an den biblischen Wahrheiten, den Überlieferungen gerade des Neuen Testaments. Sie stellen lediglich den Schlüssel dar zur Wirklichkeit. Aber sie sind im Laufe der Jahrhunderte immer wieder umgeändert worden und haben sich so von ihren Ursprüngen entfernt. Ihre Übersetzer erhoben ja auch nicht unbedingt den Anspruch auf Richtigkeit, sondern auf Wirksamkeit…“
„So, wir sind da.“ Morgen-ist-eh-alles-zu-spät stellt das Fahrzeug auf einen Parkplatz, Mikesch schnappt sich einen Einkaufswagen, Susha nimmt einen der im Laden bereitgestellten Körbe. „Hast Du auch Hunger, Diego?“ „Holt euch nur eine Kleinigkeit“, empfiehlt Mikesch. „Frieda oder Bernhard werden mit Sicherheit heute Abend etwas kochen.“ Draußen vor dem Markt setzen sie sich mit ihren Einkäufen auf eine Bank. Mikesch entkorkt mit einem Feuerzeug eine Flasche Bier, reicht sie Diego, öffnet die Nächste für sich. „Wohlsein.“ „Auf das Leben.“ Susha beißt in den Apfel und nimmt einen Schluck aus der Mineralwasserflasche. Morgen-ist-eh hat die neu erstandene Zigarettenschachtel aufgerissen und raucht. „Leben Ihre Eltern noch?“ „Vater ist kurz nach der Jahrtausendwende gestorben. Ich erfuhr es durch meine Mutter. Sie zog danach auf den Sitz ihrer Familie in Regensburg. Der Kontakt zu uns Söhnen war vor deren Seite nicht erwünscht…“ Es entsteht eine Pause, in der alle ihren Gedanken nachhängen und keine Frage an Diego gestellt wird, bis dieser von alleine mit dem Erzählen fortfährt.
„Nach dem Abitur begannen Manuel und ich zu studieren. Manuel belegte Theologie und Philosophie in Heidelberg, und ich entschied mich für ein Physikstudium in Aachen. Bei den Familientreffen zu den Geburtstagen unserer Eltern sowie zum Osterfest, das für meinen Vater eine größere religiöse Bedeutung besaß als Weihnachten, gerieten wir mit unseren Ansichten immer öfter aneinander; sowohl Manuel und ich als auch ich mit meinem Vater. Meine Mama tat mir dabei immer leid. Sie versuchte die immer schärfer werdenden Streitigkeiten zwischen uns Männern zu schlichten. Nun ja, und irgendwann blieb ich den Zusammentreffen halt fern.“
Es dauert eine Weile, bis Susha die folgende Frage an den Mann richtet. „Weißt Du, wie es dazu kam, daß sich Manuel der Freimaurerei zuwandte?“ „Der was? Ach so, wegen ‚Allmächtiger Baumeister Aller Welten‘.“ Zur Verwunderung der auf der Bank Sitzenden fängt Diego schallend zu lachen an. „Neinnein. Mein Bruder ist ebenso wenig, oder ebenso viel, wie man es betrachten will, ein Freimaurer, wie es dieser Leo Taxil gewesen ist.“ Da weder Susha, Mikesch noch Morgen-ist-eh der Name etwas sagt, reicht ihnen Diego Informationen zu der Person nach. Diesen zufolge ist Leo Taxil das Pseudonym eines 1854 geborenen Mannes – sein richtiger Name fällt Diego nicht ein – der wohl 1881 Anschluß an eine Freimauerloge in Paris suchte, aber nach dreimaligem Besuch der Räumlichkeiten verwiesen wurde, dies wegen Vergehens gegen die freimaurerische Ehre. Daraufhin begann er Schmähschriften gegen das Freimaurertum zu verfassen, in denen er von angeblichen Anbetungen des Satans während der Zusammenkünfte berichtete, und so weiter. Diese Schriften konnten zwar schon bald darauf als Schwindel entlarvt werden, jedoch hat ihr Einfluß auf die Gerüchte über diese Verbindungen bis in die Gegenwart ihre Wirkung nicht verloren. „Dann hat der Mann damals schon Fake News verbreitet“, kommentiert Mikesch, dem Diego beipflichtet. „Es ist auch behauptet worden, daß die Protokolle der Weisen von Zion aus seiner Feder stammen, jedoch eindeutig erwiesen ist dies nicht.“
„Also hat Manuel auch keine Loge gegründet?“ „Vielleicht hat er, vielleicht auch nicht. Die Begriffe Freimaurer und Loge sind nicht geschützt. Daher kann sich jeder Freimaurer nennen und irgendeine Loge gründen.“ Diego nimmt den letzten Schluck aus der Flasche und reicht sie an Mikesch zurück. „Hast Du noch eins für mich?“ Jetzt ist es Susha, die auf Weiterfahrt besteht. „Ich denke, es wird Zeit, daß ich mal nach Jackie schaue.“ „Wer ist Jackie?“ will Diego wissen, und über Sushas Antwort, dass es sich um ein Katzentier handelt, zeigt er sich begeistert. „ich liebe Katzen! Es sind wunderschöne Tiere!“ „Auf dem Hof gibt es noch den Django“, fügt Mikesch bei. „Vielleicht kannst Du ja sein Herz erobern.“ „Wir werden sehen.“ Für den Rest der Strecke wünscht sich Diego Musik und wählt aus dem Angebot von Cassetten „the Clash“, und bald darauf sind Diego, Mikesch und Morgen-ist-eh textsicher am singen. „The Ice-age is coming, the Sun is zooming in, Engines stop running, the Wheat is growing thin, a nuclear Era, but I have no Fear, cause London is drowning and I, I live by the River…“ Susha findet´s toll, bekommt als Zugabe noch ‚lost in the Supermarket‘ und ‚spanish Bombs‘ zu hören, bis sie auf dem Hof eintreffen.
Dort, auf dem erwärmten Kopfsteinpflaster, liegen Jackie und Django, und lassen sich von den allmählich schwindenden Strahlen der Sonne bescheinen. Als Jackie Susha erblickt, läuft das Katzentier auf sie zu und lässt sich von ihr auf die Arme nehmen. Django schaut zuerst etwas skeptisch, als der weißgekleidete Mann auf ihn zuschreitet und sich vor ihm hinkniet, dabei leise lockende Worte sprechend. Die jedoch zeigen Wirkung, und so lässt sich der Kater von Diego Balanza kraulen. „Bei mir hat er sich nicht so zutraulich gezeigt.“ Diego schaut auf und erblickt Khalil, während Django davonspringt. „Khalil, alter Wüstenwanderer!“ Die beiden Männer umarmen sich, klopfen Schultern. „Schau mal an, wer da ist.“ Hinter Khalil ist Georgina aufgetaucht, in Begleitung von George. „Ha! Das Ponee, und ihr Lover, der Rabenvater.“ Bevor der Neuankömmling mit Fragen bestürmt werden kann, treffen Frieda und Bernhard auf dem Hof ein. Unterdessen verabschiedet sich Alles-zu-spät, steigt in seine Ente und fährt davon, einem neuen Auftrag entgegen.
Während Bernhard sich um die Zubereitung des Abendmahls kümmert, weist Frieda ihren Gästen die Zimmer zu. George kommt zu Khalil, Georgina und Susha wird der Schlafraum von Frieda zugeteilt. „Und wo darf ich nächtigen?“ Die Frau des Hauses muss erst überlegen, wo noch Platz ist, zeigt Diego ein Sofa im Wohnzimmer, fragt, ob das recht sei. Balanza gibt ihr ein ‚like‘ mit dem Daumen seiner linken Hand. „Gut. Dann sehen wir uns gleich beim essen.“ Diesmal ist der Tisch im Esszimmer vergrößert worden. Es gibt Gemüseeintopf, dazu geröstetes Baguette, und Bier wird aus Flaschen gereicht. Nachdem alle gesättigt sind, erhebt sich Mikesch, „mal eben draußen einen schmökeln.“ „Nimmst Du mich diesmal mit?“ wird von Khalil gefragt, und so verschwinden die beiden ins Freie. George erinnert sich an das Buch, welches er in dem Schaufenster von Georginas Laden gesehen hat. In diesem Zusammenhang fällt ihm die Begebenheit in der Bibliothek ein, wovon er der neben ihm sitzenden Susha erzählt. „Ich fragte die Angestellte in der Information danach. Jetzt weiß ich, wem sie ähnlich sah: Dir!“ „Warum bitte, kannst Du mit uns nicht das Siegel des Salomon bilden?“ will Georgina von dem ihr gegenübersitzenden Diego Balanza wissen. Der hebt die Hände, die Innenflächen Richtung Zimmerdecke haltend. „Es fehlt mir dazu die nötige Energie. Deshalb bin ich auch nicht in Eurer Traumwelt dabei. Ich bin gewissermaßen nur der Mittler, und benötige Menschen als Helfer, die mit, nun ja, besonderen Kräften ausgestattet sind.“
Susha spürt nach den Worten von George ein Ziehen im Bauch. „Kann es denn möglich sein, dass Du da meiner Tochter begegnet bist?“ „Ich hatte nach dieser Begegnung jedenfalls neue Kräfte sammeln können“, weiß George zu berichten. Diego hat ihr Gespräch von der anderen Seite des Tisches mitbekommen. „Genau davon habe ich gesprochen“, ruft er aus. „Die Kleine hat die Fähigkeiten von ihrer Mutter vererbt bekommen! Deswegen ist sie diejenige, mit der das Salomonische Siegel vervollkommnet werden kann.“
„Was gibt es denn zum Nachtisch?“ will Frieda von ihrem Mann wissen, woraufhin dieser in die Runde fragt, wer denn alles einen Grappa möchte. „Wenn es nicht zuviel Arbeit macht, würde ich gern einen Kaffee trinken“, entscheidet sich Susha, dem Frieda sich anschließt. In dem Augenblick kommen Khalil und Mikesch von draußen zurück. „Grappa oder Kaffee?“ Mikesch fragt zurück, ob er auch Tee bekommen könne. „Nein, entweder oder.“ „Dann Grappa. Übrigens war heute Nachmittag einer auf den Hof gefahren gekommen, der wollte Tee und Gewürze kaufen; eine größere Menge, wie er sagte.“ Frieda runzelt die Stirn. „Wieso bestellt der das nicht online? Oder hinterlässt eine Nachricht auf der Sprachbox? Wir haben hier doch gar keinen Hausverkauf.“
Eine Weile noch sitzt die Gruppe beisammen, bis sie sich vom Tisch erhebt und ihre jeweiligen Schlafstätten aufsucht. Diego bekommt von Frieda noch eine Decke gereicht, bevor sie sich in Bernhards Schlafgemach begibt. Auf ihre Forderung an ihn, nicht zu schnarchen erwidert Bernhard, daß er darauf leider keinen Einfluß habe. Susha dagegen schafft es, Einfluß auf ihren Traum zu nehmen, kann darin Kontakt zu ihrer Tochter aufnehmen und ihr eine Botschaft übermitteln.
Am 11. September geht es weiter mit der sechzehnten und damit vorletzten Sequenz vom SIEGEL DES SALOMON. Haben Sie die bisherigen Sequenzen verpasst? Gerne schicke ich sie Ihnen als PDF zu. Schreiben Sie mich an: factory27@web.de