Die Buchvorstellung
Zwischen Hafenarbeit und Sexualhygiene, von Helge Döhring
Ein anderes Bild von Anarchisten als das des im Hinterkopf der Gesellschaft eingescannten vermummten steineschmeißenden Chaoten zeichnet der 1988 gegründete Verlag Edition AV mit seinen Veröffentlichungen.
Einer seiner Autoren, der Historiker Helge Döhring, gewährt in seinem aktuellen Buch einen detaillierten kenntnisreichen Einblick in das Wirken anarcho-syndikalistischer Organisationen nach dem 1. Weltkrieg bis zur Machtergreifung der Faschisten.
Die Schwerpunkte seiner Betrachtungen liegen darin auf den Städten Bremen, Bremerhaven und Delmenhorst. Dort entstanden gewerkschaftsähnliche Strukturen, die als Ziele hatten, Arbeiter vor Ausbeutung zu schützen, ihnen Bildung zu vermitteln, und die Menschen über Verhütung, Schwangerschaftsabbrüche und Geschlechtskrankheiten aufzuklären, dies in Vorträgen und Zeitschriften.
Ermöglicht und getragen wurden diese Aktivitäten von Freigeistern, eben jenen Anarchisten, die, unabhängig von Parteiideologien, Verbände wie die Freie Arbeiter Union, den Seemannsbund oder die Reichsverbände für Geburtenregelung und Sexualhygiene gründeten.
Rudolf Rocker, Erich Mühsam, Heinrich Vogeler und weitere Aktivistinnen und Aktivisten aus dieser Zeit werden erwähnt und zitiert, so auch Bernhard Koch aus dem Informationsblatt 'Der Sprecher' von 1929: „Der Staat braucht den Kapitalisten, er verschachert das Volk. Der Kapitalismus braucht den Staat, damit er ungestört ausbeuten kann. Der Staat muss sterben und mit ihm der Kapitalismus, damit eine staatenlose, freie Gesellschaft entstehen kann...“
Helge Döhring spart nicht an Kritik, wenn er die damals herrschenden Strukturen analysiert: „...Hier ähneln sich übrigens die Sozialpolitik der Sozialdemokratie und der Hitlerfaschismus auf frappierende Weise: beide hätscheln die Arbeiterklasse als Belohnung dafür, dass sie sich in die kapitalistischen Verhältnisse einfügte und sich selbst verbürgerlichte. Gegen den revolutionären Teil der Arbeiterschaft setzten beide auf Repressionen durch Militär und Polizei, Gefängnis und Mord.“
Eine Frage, die es zu diskutieren gilt, ist, ob der Begriff 'Klassenkampf' noch zeitgemäß ist. Wo aber so genannte Freelancer in den Konkurrenzkampf treten, Büroangestellte auf die Mittagspause verzichten, damit sie ihr Arbeitspensum schaffen, und das Firmenlaptop mit in den Urlaub genommen wird, da gilt es, dem Raubtierkapitalismus den Kampf anzusagen. Und dazu zeigt dieses Buch Wege und Mittel auf.
Die reichhaltigen Informationen werden begleitet durch Fotografien und Abbildungen neben anderem von Originaldokumenten aus der Zeit.
Zwischen Hafenarbeit und Sexualhygiene. Anarchosyndikalismus an der Unterweser 1918 – 1933. Edition AV. ISBN 978-3-86841-277-2.
460 Seiten, 24 Euro.
Zu dem Verlag geht es hier: www.edition-av.de